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Das Jugend-Parlament tagt
Draußen ist es bereits dunkel geworden. Zehn Jugendliche sitzen auf der breiten Couch, auf Sesseln und am dunkelroten Fransenteppich. Im Raum der Verrückten Jugend Aktion (VJA) tritt tiefe Stille ein. In diesem Augenblick wäre selbst eine fallen gelassene Stecknadel noch zu hören. Oliver stützt sein Kinn in die Hand, Selim reibt sich die Stirn und Onur wippt am Sessel vor und zurück. Can schließt die Augen.
Gerade noch hat Tanja Kotek, Gruppenleiterin der VJA, sie gefragt: „Wollt ihr einen Jugendvertreter oder eine Jugendvertreterin wählen?“ Die Antwort wird richtungsweisend sein. Denn heute ist nicht irgendein Treffen der VJA. Heute tagt das Jugend-Parlament. Das heißt, die blinden und sehbehinderten jungen Erwachsenen entscheiden, wie sich die VJA weiterhin gestalten wird.
Was gut ist, darf bleiben
Doch bevor so weitreichend entschieden wird, startet das Parlament mit einer Bestandsaufnahme. Wie nehmen die Jugendlichen die VJA überhaupt wahr? Die Gruppenleiterinnen Tanja Kotek und Karoline Kadelski verteilen Flipchart-Blätter und dicke Stifte. Rhythmische Musik motiviert und schon bald flitzen die Stifte über das Papier. Die Jugendlichen schreiben nieder, was sie mit der VJA verbinden, was sie mit ihr schon erlebt haben.
Onur verlautet seine Meinung:
„Ich finde super an der VJA, dass man sich hier entspannen kann, nach der Schule kommt man ein bisschen vom Stress weg. Ich find’s auch gut, dass man hier so seine Freunde treffen, neue Freunde finden kann.“
Besonders vielen Jugendlichen ist das Autofahren in der Fahrschule Sauer sowie das Go Kart-Fahren im Gedächtnis geblieben. Beide Aktivitäten stehen auch auf der Wunschliste für das kommende Jahr.
Spannende Pläne für 2020
Die Ideen für neue Aktivitäten fließen bei den Jugendlichen wie ein Wasserfall. Denis möchte gerne mit der VJA Ausstellungen oder wieder einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Can erzählt begeistert, wie gerne er mit der Jugendgruppe Reiten gehen möchte. Er war schon öfter beim Lusthaus im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Selim denkt über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus: „Eine Auslandsreise wäre super. Einfach in ein anderes Land, so exkursionsmäßig. Italien wäre sicher realistisch oder vielleicht Deutschland.“
Das Jahr 2020 wird für die VJA ein sehr aktives werden. Die Ideen reichen von Blindenfußball über Filmdrehs, von Grillpartys bis hin zu Gruselnächten. Es soll getanzt werden, gepaddelt oder geklettert. Die Liste umfasst Dutzende von Vorschlägen, was wird wohl umgesetzt werden?
Gemeinsam gestalten
Das Jugend-Parlament tagt zum ersten Mal seit dem zweijährigen Bestehen der VJA. Bereits davor konnten sich die Jugendlichen immer einbringen, Aktivitäten vorschlagen oder mitplanen. In den Anfängen der Jugendgruppe wurzelt die Mitbestimmung, erzählt Oliver: „Can, Stani und ich haben die VJA mit Tanja gemeinsam aufgebaut. Tanja ist damals zu unserem Kurs bei SEBUS (Schulungseinrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen) gekommen und wir drei wollten freiwillig mitmachen. Dann haben wir das in die Hand genommen.“ Von Beginn an war Beteiligung großgeschrieben. Mittlerweile informieren sich bis zu 90 Jugendliche über das anstehende Programm. Jede und jeder Einzelne davon kann sich einbringen.
Im Plenum thematisiert Tanja Kotek die Gestaltung der Aktivitäten. Die Gruppenleiterinnen organisieren und verwirklichen die Ideen der Jugendlichen. Sie motivieren diese auch, sich noch mehr in die Planung einzubringen. Gelegentlich möchten sie den Jugendlichen neue Impulse geben, indem sie noch nie dagewesene Aktionen anbieten.
„Ich geb‘ euch ein konkretes Beispiel: Karo und ich planen gerade Halloween. Wir würden euch gerne überraschen, und nicht viel verraten. Das wäre ein Überraschungs-Aktionstag. Wenn ihr aber lieber möchtet, dass wir uns wieder Pizza bestellen und einen Gruselfilm schauen, dann können wir das natürlich auch machen. Ist prinzipiell die Bereitschaft da, euch überraschen zu lassen?“
Die Jugendlichen überlegen, und schließlich wird eine demokratische Abstimmung getroffen. Im Plenum äußern alle ihre Meinung. Die Entscheidung fällt: Überraschungen sind erwünscht, wer die Neugierde nicht aushält, darf sich vorab bei Tanja Kotek oder Karoline Kadelski erkundigen.
Der perfekte Jugendraum
Besonders bunt geht es dabei zu, als die EntscheidungsträgerInnen überlegen, wie man den Raum verbessern könnte. Eine schlichte Kiste mit Bastelutensilien wie Pfeifenputzern, buntem Papier oder Luftballonen wartet auf die Kreativsten unter ihnen. Denn die Frage, was die Jugendlichen am Raum verändern würden, können sie auch gestalterisch beantworten. So bläst Can einen Luftballon auf und erklärt seinen Wunsch nach einer Diskokugel. Selim, Lisa und Stani verwirklichen ihre Träume in kleinen Kunstwerken: Sie basteln einen Miniatur-Raum in 3D-Optik. Die Jugendlichen äußern Wünsche nach einem größeren Couchtisch, einem Box-Sack oder einem stärkeren WLAN für einen reibungslosen Zugang ins Internet.
Onur ist mit dem Gruppenraum zufrieden:
„Der Raum passt so für mich, da hab ich auch mitgestaltet. Den Teppich zum Beispiel und das mit der Playstation haben wir auch selber überlegt. Bei der Wand-Deko war ich nicht dabei. Und eine Couch fehlt da auch noch. Wenn wir das haben, ist es perfekt.“
Kritik und Lob sind gefragt
Jede Meinung zählt. Um allen die Möglichkeit zu geben, ihr oder sein Feedback individuell zu äußern, haben Tanja Kotek und Karoline Kadelski einen Raum für Einzelübungen bereitgestellt. Hier können die Jugendlichen eine persönliche Nachricht in eine laufende Videokamera sprechen. Kritik können sie anonym äußern, ein Laptop mit einer eigens eingerichteten Website steht bereit. Die Mitteilung geht nach dem Absenden via E-Mail an Tanja Kotek – ohne die AbsenderInnen zu nennen. „Ich habe meine Meinung geäußert. Man sieht, dass die VJA auf unsere Meinung Wert legt. Da könnten sich die Abgeordneten im Parlament was abschauen“, erklärt Stani. Die Website steht auch weiterhin bereit für Einfälle, Anregungen und Kritik.
Die Zukunft mitgestalten
Die Stunden während der Parlamentssitzung vergehen wie im Flug. Es ist Abend und die letzten brennenden Fragen werden geklärt. „Alles was ihr uns heute mitgeteilt habt, werden wir sammeln und daraus die perfekte VJA für alle entwickeln“, erklärt Tanja Kotek die weitere Vorgehensweise. „Als Teil vom Blinden- und Sehbehindertenverband könntet ihr euch auch in den Verein einbringen. Nachdem ihr so coole Ideen habt, dachten wir uns, ob ihr einen Jugendvertreter oder eine Jugendsprecherin wählen wollt?“
Nach einer kurzen Denkpause bricht Oliver die Stille: Er fände es schon gut. Die anderen Jugendlichen stimmen ein, bis eine klare Mehrheit beschließt: Sie wünschen sich eine Jugendvertretung im Blinden- und Sehbehindertenverband WNB, die für ein Jahr im Amt bleiben soll. Dieser Wunsch nach mehr Mitspracherecht wird nun in den Blinden- und Sehbehindertenverband WNB eingebracht. Gewählt würde an einem eigens angesetzten Termin werden. Für noch mehr Mitbestimmung. Für die perfekte VJA. Für eine gemeinsame Zukunft, die alle mittragen.
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