Portraits
Die Blindgängerin
Interview mit Barbara Fickert
Wie wurde Ihre Kinoleidenschaft geweckt, Frau Fickert?
Ich bin hochgradig sehbehindert geboren, wahrscheinlich hat mein Sehrest ungefähr sieben Prozent betragen. Meine Eltern und meine jüngere Schwester sind begeisterte Kinogänger:innen gewesen, und ich bin mit ihnen mitgegangen. Ich habe festgestellt, dass ich auf der Kinoleinwand viel mehr erkennen kann als auf unserem Fernseher, den wir damals, das war Ende der 1960er Jahre, zuhause hatten. Und seit meiner Kindheit mag ich diese Atmosphäre, wenn es im Saal dunkel wird, wenn die Musik ertönt und der Film beginnt.
Wie reagieren andere, wenn Sie als blinde Person ins Kino kommen?
Wenn ich mit Freundinnen ins Kino gehe, erzählen sie mir von den erstaunten und verständnislosen Blicken der anderen. Diese Blicke scheinen zu sagen: Wie kann es nur sein, dass ein blinder Mensch ins Kino geht?!
Mein Blog heißt Die Blindgängerin. Da erzähle ich eine Anekdote, dass mich ein Taxifahrer einmal zu einem Kino bringt und auf dem Weg dorthin fragt, ob ich das Blindsein nur spiele.
Ich hab mir gedacht, wie kommt er nur auf diese Idee? Auf meine Frage hat er gemeint, na ja, manche haben halt so einen Tick. Erst beim Aussteigen ist mir plötzlich eingefallen, dass der Taxifahrer sich schlicht und einfach nicht vorstellen konnte, dass ein blinder Mensch ins Kino geht.
In den 1990er Jahren hat sich Ihr restliches Sehvermögen schleichend verringert und Anfang der 2000er Jahre konnten Sie nichts mehr sehen. Das hat sich auf Ihre Kinoleidenschaft ausgewirkt, Sie sind viel seltener ins Kino gegangen. Aber seit dem Jahr 2014, seit knapp zehn Jahren, gibt es die App Greta und Starks. Über diese App können sich Menschen, die blind oder sehbehindert sind, am Smartphone die Audiodeskription zum Film zugänglich machen. Vorausgesetzt, es gibt eine Hörfilmfassung zum gewünschten Film, die auch in der App bereitgestellt ist.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass eine App auf meinem Smartphone mein Leben so positiv verändern kann. Es war für mich ein total tolles Erlebnis, mit der App ins Kino zu gehen und diese Bildbeschreibung im Ohr zu haben. So konnte ich wieder einem Film folgen, ohne dass mir jemand etwas zuflüstern musste. Das ist natürlich genial. Und es ist einfach. Man kann die App kostenlos herunterladen. Wenn man die App gestartet hat, sucht man sich den gewünschten Film aus und lädt die Audiodeskription herunter. Beim ersten Mal muss man sich anmelden. Das ist alles.
Sie waren dabei, als die App Greta in einem Berliner Kino zum ersten Mal verwendet werden konnte. Der Film, der gezeigt wurde, heißt Imagine und spielt in einer Schule für blinde Kinder in Lissabon. Bei dieser Weltpremiere war unter anderem auch Seneit Debese dabei, die Frau, die diese App entwickelt hat.
Ja, und Seneit Debese hat mich dort angesprochen, hat gesagt, dass ich damit auf Facebook gehen sollte, damit die App bekannt wird. Wir sind in Kontakt geblieben. Sie kommt aus der Filmbranche und stammt ursprünglich aus Eritrea. Einmal machte sie eine Reportage über ein blindes Mädchen namens Kitty, das ebenfalls aus Eritrea stammt und in Deutschland lebt. Kitty hatte ihr erzählt, dass sie sich nie Filme im Kino anschaut, weil sie nicht mit den anderen an denselben Stellen lachen kann. Das war für Seneit Debese der Anstoß, zusammen mit anderen diese App zu entwickeln.
Frau Fickert, die App Greta und Starks ermöglicht Ihnen nicht nur einen wunderbaren Kinogenuss, sondern hat auch dazu geführt, dass Sie Bloggerin geworden sind.
Der Blinden- und Sehbehindertenverband hat mich gebeten, einen Artikel zu schreiben, wie ich mit der Greta App ins Kino gehe. Das war 2014 und ich war bei der Premiere des Films Monsieur Claude und seine Töchter. Ich sollte nur darüber schreiben, wie es mit der App geklappt hat. Bis dahin hatte ich noch nie einen Artikel geschrieben. Aber mir hat das Schreiben so viel Spaß gemacht und eine Freundin hat gesagt, das ist gut, mach doch einen Blog. Ich hab damals nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht, und so ging der Blog im Januar 2015 an den Start. Ich muss aber sagen, ich sitze lange an einem Artikel und ich schreibe immer aus meiner Sicht, aus der Sicht einer Blinden.
Sie konsumieren nicht nur die Audiodeskription bei Kinofilmen, Sie arbeiten seit Ende des Jahres 2015 auch regelmäßig für verschiedene Anbieter:innen von Hörfilmfassungen.
Ja, im letzten Jahr war ich ungefähr einen Tag pro Woche damit beschäftigt. Das läuft so ab, dass die Autorin der Audiodeskription zu mir kommt. Ich stelle dann zwei Boxen auf, um einen möglichst guten Ton zu haben, fast wie im Kino. Dann geht es schon los mit dem Film und die Hörfilmautorin liest mir ihren Text vor. Also die ersten zehn Minuten. Ich höre ihren Text – wie im Kino – zum ersten Mal. Es muss mit dem Text gleich klappen. Und wenn es nicht klappt, dann müssen wir dran herumformulieren.
Sie haben Ende 2015 begonnen, die Gründung Ihrer gemeinnützigen GmbH Kinoblindgänger vorzubereiten. Und zwar mit dem Ziel, mehr Filme barrierefrei zu machen, insbesondere internationale Arthouse Filme, also künstlerisch anspruchsvolle Filme.
Die Blockbuster, die kommerziell erfolgreichen Filme, gabs ja als Hörfilme. Universal Pictures haben damit angefangen, haben sich aber wieder ziemlich zurückgezogen, machen nur noch zwei, drei barrierefreie Filme pro Jahr, bringen aber ungefähr zehn im Jahr heraus. Sehr viele internationale Arthouse Filme sind jedoch ohne Audiodeskription. In der Politik fühlt sich niemand dafür zuständig. In Deutschland ist die Pflicht zur barrierefreien Filmfassung an Fördergelder geknüpft. Bei den internationalen Filmen ist das nicht so. Ich hab mir gedacht, ich nehme mich dieser Sache an. Ich muss es probieren, auch wenn ich nur einen Film hinkriege. Jetzt gibt es uns seit acht Jahren und wir sind beim elften oder zwölften Film angelangt, den wir barrierefrei machen. Mein Mann hat mir sehr geholfen, vor allem bei rechtlichen Sachen und bei Behördengängen, ohne seine Unterstützung hätte ich es gar nicht machen können.
Sie leben seit 1983 in Berlin, sind aber gebürtige Mannheimerin. Dort haben Sie eine Grundschule für sehbehinderte Kinder besucht. Dann sind Sie mit Ihrer Familie in einen Vorort von Heidelberg gezogen. Sie haben in Heidelberg das Gymnasium absolviert und Rechtswissenschaften zu studieren begonnen. Wie kann man sich diesen Weg von der Sonderschule auf die Universität vorstellen und was hat Sie nach Berlin geführt?
Ich hab in dieser Sonderschule wenig gelernt. Meine Mutter hat jeden Nachmittag mit mir gelernt und geübt. Ohne sie hätte ich den Absprung aufs Regelgymnasium niemals geschafft, und somit auch nicht auf die Uni. Überhaupt muss ich sagen, dass meine Eltern mich immer sehr unterstützt haben. Nach Berlin bin ich über Umwege gekommen. Ich war mit einigen Kommiliton:innen in Frankreich auf Urlaub, am Atlantik haben wir gezeltet, da haben wir eine Berliner Truppe kennengelernt, alle waren mit Motorrädern unterwegs. Das fand ich schon chic. Mit einem war da so ein Flirt, der hat mich in Heidelberg besucht und ich ihn in Berlin. Er hat als Elektriker gearbeitet, das war eine ganz andere Welt, nicht diese Jura Student:innen, Heidelberg ist ja voll davon. Ich hab mir dann gedacht, du musst jetzt einmal woanders hin. Ich habe mir das sehr gut überlegt und bin bei meinem Entschluss geblieben. Meine Eltern waren wenig begeistert, um das gelinde auszudrücken, aber sie haben mich ziehen lassen. Da staune ich heute noch, sie haben sich damals bestimmt wahnsinnig viel Sorgen gemacht.
Sie waren damals 23 Jahre alt, hatten Ihr Grundstudium an der Juristischen Fakultät in Heidelberg abgeschlossen, in Berlin wollten Sie weiterstudieren. Sie waren bereit für neue Abenteuer. Ihr Urlaubsflirt wirkte offenbar beflügelnd.
Ich hab einen Koffer gepackt und bin im Februar 1983 mit einem Studienfreund nach Berlin gefahren. Er hatte einen VW Käfer, unterwegs hat es fürchterlich geschneit und in Berlin war Blitzeis. So bin ich damals nach Berlin geschlittert. Alles war sehr aufregend, mein Leben war schon immer aufregend. Ich habe nach einiger Zeit ein Zimmer in einer Zweier WG gefunden. Dann kam der Sommer. Ich bin mit der Motorradgruppe durch die Stadt gefahren, das war toll. Wir haben an einem See angehalten, Kaffee getrunken, so habe ich Berlin lieben gelernt. Der Flirt war dann weg, aber über ihn hab ich viele Leute kennengelernt. Mit dem Studium ist es in Berlin nicht so gut gelaufen, ich habe es dann abgebrochen. Aber an der Uni hab ich auch wieder viele Leute kennengelernt.
Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass Sie nicht mehr versucht haben, Ihre Sehbehinderung zu verbergen, so wie Sie dies in Ihrer ersten Zeit auf der Universität gemacht haben.
Ja, das war ganz am Anfang. Gleich nach dem Abitur hab ich kurz in Mannheim studiert. Da hab ich versucht, das zu vertuschen und das war natürlich total bescheuert. Ich bin ja sehr kontaktfreudig und hab oft mit Leuten gequatscht, dann hat man sich getrennt und irgendwann am Unigelände wieder getroffen und sich aus der Entfernung zugewinkt. Ich hab aber nicht zurück gewinkt, weil ich es nicht gesehen habe. Irgendwann hab ich erfahren, dass ich den Ruf hatte, ich sei arrogant. An der Uni in Heidelberg habe ich von Anfang an konsequent gesagt: Übrigens, ich kann schlecht gucken und wenn ich dich einmal nicht sehe oder irgendwas komisch ist, dann hat es damit zu tun, dass ich dich nicht sehe. Das hat sich dann auch herumgesprochen. Das war das Beste, was ich je machen konnte. Und in Berlin habe ich es genauso gemacht.
Sie haben in Berlin einen netten Kreis von Leuten gefunden und Sie haben Ihren Mann über eine Freundin Ihres ehemaligen Flirts kennengelernt. Man könnte sagen, das war ein Flirt mit weitreichenden Folgen.
Diese Freundin hat mich zu ihrem Geburtstagsfest eingeladen und dort bin ich zum ersten Mal meinem späteren Mann begegnet, das war der Jürgen. Da war gleich eine sehr, sehr große Sympathie, das war 1984. Und seit dem Jahr 1985 sind wir ein Paar.
In den 1990er Jahren verlieren Sie Ihren geringen Sehrest. Dies stellt für Sie persönlich und für Sie beide als Paar eine Herausforderung dar.
Diese Jahre waren schwierig für mich, denn ich konnte mit meinen Hilfsmitteln, mit meinem Lupensystem, nicht mehr lesen und schreiben. Und ich hatte noch nicht die Möglichkeit, dies über den PC zu tun. Erst im Jahr 2000 oder 2001 kam das dann mit der Sprachausgabe. Es war eine ganz blöde Übergangszeit, aber ja, die hat jeder im Leben, denk ich mir. Ende der 1990er Jahre habe ich, zuerst widerwillig, dann doch beschlossen, das Training mit dem weißen Langstock zu machen. Wie ich dann in der ersten Zeit alleine unterwegs war, hatte mein Mann wahnsinnig Angst gehabt. Es war schon gut, dass es Handys gab, das hat geholfen. Es war eine schwierige Zeit, aber ich denke, wir haben es ganz gut hingekriegt. Nein, wir haben es sehr gut hingekriegt.
Danke für das Gespräch.
Weblink: https://www.kinoblindgaenger.com/
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