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Ein Bild sagt mehr als tausend Worte?
Was soll ich als blinde Person in einem Museum, das ausschließlich Bilder ausstellt? Bilder in pompösen Rahmen an hohen Wänden und Kunstobjekte in Glasvitrinen. Für mich ist ein Museumsbesuch nur dann interessant, wenn ich Gegenstände angreifen und mir so ein Bild von ihnen machen kann.
Das Kunsthistorische Museum in Wien zu besuchen erschien mir wenig reizvoll. Schon als noch Sehende haben mich Bilder nie besonders interessiert – die Atmosphäre in Kunstmuseen kam mir immer etwas verstaubt und langweilig vor. Und dann gibt es jetzt ja diese App namens „ARCHES“ (Interview dazu im früheren ARCHES-Blogeintrag), mit der man ausführliche Beschreibungen von Gemälden am Smartphone anhören kann. Warum also nicht gemütlich auf der Couch sitzenbleiben und sich per Handy kulturell weiterbilden, fragte mich mein innerer Schweinehund.
Manchmal lohnt es sich, über seinen Schatten zu springen und einfach etwas Neues auszuprobieren, antwortete ich ihm und fand mich sodann vor kurzem bei einer speziellen Führung für blinde und sehbehinderte Menschen im KHM (Kunsthistorisches Museum) wieder.
Im Folgenden möchte ich die Eindrücke dieses Nachmittags, aber auch einige Gedanken und Fragen, die bei mir auftauchten, schildern.
Das Frühjahr 2020 werden wir wohl alle in Erinnerung behalten. Fast kein Lebensbereich, in dem Corona nicht seine Auswirkungen spüren lässt. Und auch im Museum wird es deutlich:
Eigentlich sollten die Ausstellungsräume von BesucherInnen bevölkert und vielen Stimmen erfüllt sein. Es ist jedoch still und ziemlich leer.
Für uns als blinde BesucherInnen bedeutet das, ungehinderter voranzukommen und auch die Stimme unserer Führerin gut zu hören. Ein Vorteil also.
Frau Dr. Rotraut Krall ist Kunsthistorikerin und befasst sich schon seit Längerem mit barrierefreier Kulturvermittlung. Für unsere Führung hat sie sich ein, wie ich fand, sehr zeitgemäßes Thema ausgesucht: Es sollte um Krankheit gehen, dargestellt von verschiedenen Künstlern.
Da gibt es zum Beispiel die Darstellung des an Melancholie erkrankten König Davids, der völlig versunken dem Spiel eines Musikers lauscht. Sehr ausführlich schildert uns Dr. Krall die Einzelheiten des Gemäldes: Wir erfahren viel über die Farben und die Lichteffekte auf dem Bild, über die Gesichtsausdrücke der dargestellten Personen, deren Gewänder sowie Gestaltung der Räumlichkeiten. Auch über den Maler, den historischen Hintergrund des Werks und über die Maltechnik erzählt sie.
Aus ihrer Tasche zaubert sie plötzlich einige Malutensilien, und ich bekomme einen Pinsel aus Marder- und einen aus Eichhörnchenhaar in die Hand gedrückt. Sehr deutlich kann man den Unterschied in der Festigkeit spüren.
Natürlich ist es verboten, die Gemälde zu berühren. Darum gibt es zu einigen Werken, etwa "Der Kampf zwischen Fasching und Fasten", tastbare Reliefs. So bekommt man einen Eindruck von Bildaufbau, Perspektive oder einzelnen dargestellten Gegenständen.
Ein Gemälde, das ich besonders berührend finde, zeigt ein Kind. Es handelt sich um einen spanischen Thronfolger, etwa 3 Jahre alt. Sehr anschaulich beschreibt uns Frau Krall, wie kränklich der Junge ausschaut, seine blasse Gesichtsfarbe, die Körperhaltung, die große Schwäche ausdrückt. An einer Hand, die auf einer Stuhllehne liegt, könne man gut erkennen, wie wenig Kraft das Kind habe.
Das will ich aber jetzt genauer wissen. Wie man denn an der Handhaltung die Schwäche ablesen könne, frage ich sie. Da hält mir Frau Krall ihre Hand hin und ich darf tasten.
Und da spüre ich es. Die Hand hängt völlig kraftlos und schlaff herunter. Wir erfahren dann auch, dass der Junge sehr früh verstarb und wahrscheinlich war es das, was mich so berührt hat.
Insgesamt „betrachten“ wir vier oder fünf Bilder auf diese besondere Weise. Besonders daran ist, dass wir neben der objektiven Bildbeschreibung auch viel Hintergrundinformationen bekommen.
Und da ist er plötzlich, der Zweifel:
Kann ich als blinde Person Malerei überhaupt so „richtig“ erfassen?
Ich stehe vor einem Gemälde, richte mein Gesicht in die Richtung, in der ich es vermute und lausche den Beschreibungen unserer Führerin. In meinem Kopf entsteht ein Bild, das sich einerseits aus meiner Phantasie und andererseits aus diesen Beschreibungen zusammensetzt.
Hat das Bild in meinem Kopf überhaupt Gemeinsamkeiten mit dem, was tatsächlich zu sehen ist, frage ich mich. Wieviel eigene und wieviel Interpretation der Erzählerin fließen in mein „Phantasiebild“ mit ein?
Und plötzlich fehlt sie mir wieder einmal, die visuelle Wahrnehmung. Zu stark fühle ich mich angewiesen auf die Erklärungen Frau Kralls, mögen diese auch noch so objektiv und sachlich sein. Ich verspüre den starken Wunsch, die Gesichtsausdrücke, die Hautfarbe, die Gesten und alles andere mit „eigenen Augen“ zu sehen und mir selbst ein Bild zu machen.
Und trotzdem möchte ich wiederkommen und weitere Kunstwerke auf diese Weise kennenlernen. Frau Krall hat ein großes kunsthistorisches Wissen und auch eine sehr lebendige Art, Kunstwerke zu beschreiben.
Und nicht nur die fachkundige Führung hat mich beeindruckt. Das Museum an sich mit seinen hohen Räumen und Hallen, den großen Treppen… Der Geruch, ein bisschen nach Holz, ein kleines bisschen nach Staub, und dann das Knarren des alten Parkettbodens. In Summe ein interessantes Erlebnis, für das es sich tatsächlich lohnt, von der Couch oder dem Gartenliegestuhl aufzustehen.
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