Portraits
Ein Westfale in Wien
Herr Goerdes und sein Online Shop
Der gelernte Einzelhandelskaufmann betreibt einen Online Shop namens BlindeTomate. Dieser Ausdruck stammt aus seiner Heimat. Im Ruhrgebiet wird man gefragt, ob man Tomaten auf den Augen habe, wenn man etwas, das sich direkt vor der eigenen Nase befindet, nicht sehe. Nein, Tomaten habe er nicht auf den Augen, aber sehen könne er auch nicht. Wenn es aber um seine Leidenschaft geht, wenn es also ums Essen und Trinken geht, sind Schmecken und Riechen ohnehin wichtiger als das Sehen. Im Online Shop BlindeTomate werden haltbare Lebensmittel wie Getränke, Senf, Ketchup, Gewürze, Kaffee, Naschereien und Knabbereien oder Frucht- und Schokoaufstriche angeboten. Der Feinschmecker ist ständig auf der Suche nach neuen Produkten und erweitert sein Angebot laufend. Immer nach der Devise: Schmeckt es mir und will ich es in meiner Küche verwenden? Ist es ökologisch produziert und fair gehandelt?
„Es ist mir ganz wichtig, dass die Nahrungsmittel nachhaltig angebaut werden und dass in den Produkten keine Kinderarbeit steckt.“
Die Ware wird per Post zugestellt, doch für die Wiener KundInnen, die blind oder sehbehindert sind, gibt es ein ganz spezielles Service: „Bei einem Bestellwert von rund 20€ bringe ich die Ware zu jeder U3 Station. Ich kenn das ja, man ist zuhause, aber der Paketzusteller wirft den Zettel trotzdem gleich in den Briefkasten. Der Weg zur Post ist oft recht mühsam und da ich gleich bei einer U-Bahnstation wohne, möchte ich meiner Wiener Kundschaft entgegenkommen.“
Harte Lehr- und Berufsjahre
Erlernt hat Andreas Goerdes sein Handwerk im Kaufhaus Hertie. Die Lehrzeit war jedoch alles andere als einfach, das Verständnis für den stark sehbehinderten jungen Mann gering.
„Zu Beginn der 1980er Jahre hat man das Wort Integration noch gar nicht gekannt. Es war ja schon schlimm genug, dass ein Behinderter überhaupt frei rumläuft, aber dass er auch noch eine Ausbildung machen will, das war schon schwierig.“
Wenn der Lehrling Kleingeschriebenes nicht lesen konnte, wurde ihm unterstellt, er sei faul oder zu eitel, eine Brille aufzusetzen. Doch eine Brille hätte nichts verbessert. „Ich habe Retinopathia pigmentosa (RP). Diese erblich bedingte Netzhautdegeneration führt zur Blindheit, man weiß nur nicht wann. Diese Krankheit kommt in Schüben.“ Nach dem Lehrabschluss kommt es wieder zu einem Schub und das Sehvermögen verschlechtert sich weiter. „Damit war der Verkäuferberuf für mich gestorben.“
Als wäre dies nicht schon genug, ereignet sich bei einem Osterfeuer ein dramatischer Unfall. Ein betrunkener Zimmermann habe die Patronen einer Granatkartusche ins Feuer geworfen und die Patronen seien explodiert. „Splitter haben mein linkes Auge getroffen und dann wars das mit dem linken Auge.“ Zwei aufwändige Operationen, die jeweils viele Stunden dauern, können das Auge zwar erhalten, aber nicht das Sehvermögen. Im Alter von 21 Jahren muss Andreas diesen traumatischen Unfall und die Erblindung am linken Auge verarbeiten. Und er steht vor der Frage, wie es für ihn beruflich weitergehen soll.
Welche Möglichkeiten hat er? Damals wenige. Er kann sich zum Telefonisten oder Masseur ausbilden lassen und entscheidet sich für den Gesundheitsberuf. Doch bald ist ihm klar, dass dies überhaupt kein Beruf für ihn ist. Über einen Freund erfährt er von einem Job im Versandhaus von Hess Natur, einem Unternehmen, das Bekleidung und Heimtextilien in biologischer Qualität produziert. Er wiegt und frankiert die Pakete, das wird zu der Zeit noch händisch gemacht. „Später habe ich die fertigen Pakete verladen.“ Nach sieben Jahren kündigt Andreas Goerdes seinen Job. Er hat jetzt ganz andere Pläne.
Schwarze Pädagogik
Andreas Goerdes wächst mit seinem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester in Lünen auf, einem Ort ganz in der Nähe von Dortmund. Bereits im Volksschulalter steht fest, dass das Kind eine Sehbehinderung hat. Aber niemand kann so genau sagen warum. Damals sieht seine Mutter noch gut, einige Jahre später tritt auch bei ihr RP auf, dann auch beim Bruder. Beide sind heute blind. Die Schwester ist nicht davon betroffen. Weil der Bub schlecht sieht, sitzt er in der Klasse immer vorne in der Mitte. Wenn er die Schrift an der Tafel einmal doch nicht lesen kann, schreibt die Lehrerin größer. Schule ist kein Problem. Das ändert sich in der vierten Klasse Volksschule jedoch schlagartig, als er einen anderen Lehrer bekommt, der knapp vor der Pensionierung steht. Mit dem neuen Lehrer beginnt für den Buben ein Martyrium. „Das war, vorsichtig ausgedrückt, ein Lehrer alter Schule. Einer, der wohl auch den Hitler hochgehalten hat und der der Ansicht war, dass ein behinderter Schüler in seiner Klasse nichts zu suchen hat.“
Der Lehrer verlangt, dass Andreas in einer hinteren Bankreihe sitzen soll. Die Mutter kann das zwar verhindern, aber jetzt hat er seinen Platz nicht mehr vorne in der Mitte, sondern links außen. „Aber da habe ich nix gesehen, denn wir hatten eine Klapptafel und der Lehrer hat immer auf der rechten Tafelseite geschrieben.“ Der Pädagoge beschämt das Kind vor den anderen. Er schlägt den Kindern in der Klasse vor, für Andreas zu sammeln, um ihm ein Fernrohr zu kaufen. Denn dann könne er ganz nach hinten gesetzt werden und würde nicht mehr stören. Er erklärt dem Buben auch, dass er Glück habe, überhaupt noch bei den Eltern wohnen zu dürfen, denn kein Vater, keine Mutter würde so ein Kind haben wollen.
Andreas ist völlig eingeschüchtert, er wagt es nicht, den Eltern davon zu erzählen und traut sich nicht mehr in die Schule. „Es war richtig arg und ich hab dann so getan, als würde ich in die Schule gehen. Ich hab mich draußen herumgetrieben und da ich eine Armbanduhr hatte, wusste ich auch, wann ich wieder daheim sein muss.“ Das geht fast 14 Tage so. Aber eines Tages schaut seine Mutter ihn beim Heimkommen sehr streng an. Da das Elternhaus nahe bei der Schule steht, sieht die Mutter die Kinder immer heimgehen. Und an jenem Tag gehen sie schon drei Stunden früher heim.
„So ist rausgekommen, was wirklich los ist und anstatt den Lehrer zu entsorgen, wurde ich entsorgt.“
Die Eltern sind empört und betroffen, stinksauer seien sie gewesen, es gibt Gespräche mit der Schulleitung. Aber es wird ihnen unmissverständlich nahegelegt, ihren Sohn in eine Schule für Kinder mit einer Sehbehinderung zu geben. Das machen sie dann auch und dort erlebt Andreas, dass auf alle Kinder Rücksicht genommen wird, auch auf die, die noch viel schlechter sehen als er. Langsam fasst der Bub wieder Vertrauen zu den Lehrkräften, taut auf, fühlt sich in der Klassengemeinschaft wohl und die Schule macht ihm wieder Spaß.
Ein Blindenführhund spielt Schicksal
Mitte der 1990er Jahre realisiert Andreas Goerdes, er ist damals Anfang 30, dass er kaum noch etwas sieht. Es sei ein langer Prozess, bis man sich dies eingestehe. „Es ist ja bei vielen Menschen mit einer Sehbehinderung so, dass sie sagen, ach geht schon. Man stolpert durch die Gegend, trifft jedes Straßenschild und jeden Laternenpfahl, aber es geht noch. Bis man das erste Mal eine Treppe hinunterfällt, weil man sie nicht sieht. War bei mir auch so.“ Er weiß, jetzt muss er etwas unternehmen, etwas ändern. Verwendet er den Langstock oder nimmt er einen Blindenführhund? Er entscheidet sich für den Hund. Ende Oktober 1996 bekommt er seinen ersten Blindenführhund. Der Trainer schult Hund und Herrl eine Woche lang am Wohnort ein, alles klappt gut. Als der Trainer fort ist, fangen die Probleme an. Wenn die beiden abends zum letzten Mal hinausgehen, will der Hund nicht mehr heim. Sein Herrl ist leider neu in der Stadt und kennt sich noch nicht so gut aus. So wandern die beiden an kalten November- und Dezemberabenden durch menschenleere Gassen. „Unter zwei Stunden ging gar nix“, erinnert sich Andreas Goerdes.
Noch eine andere Eigenart hat der vierbeinige Begleiter. Wenn Andreas Goerdes in den Zug oder Bus einsteigen will, bleibt der Hund wie angewurzelt stehen. Die steilen Stufen scheinen ihm nicht geheuer zu sein. „Er wollte ums Verrecken nicht einsteigen. Man hat ja nicht viel Zeit am Bahnhof. Zum Glück hat der Schaffner mich gesehen und probiert, den Hund hinein zu locken und irgendwann gings dann. Aber es blieb schwierig.“ So konnte es nicht weitergehen.
Als der Hundebesitzer von einem Seminar für FührhundehalterInnen in der Steiermark liest, denkt er sich sofort: Da fahr ich hin, kann ja nicht verkehrt sein. Ist es auch nicht. Gar nicht. Sein eigenwilliger Hund sorgt sogar für das ganz persönliche Glück seines Herrls.
„Dort habe ich Claudia kennengelernt, meine jetzige Frau. Sie hatte auch Probleme mit ihrem Blindenführhund.“
Das ist im Mai 1997. Sie sind sich sofort sympathisch, bleiben in Kontakt und besuchen sich. Bereits im Sommer sind sie ein Paar, im Herbst zieht er zu ihr nach Wien. „Wir wollten keine Fernbeziehung. Claudia wollte nicht nach Deutschland. Und weil ich auch ein bisschen einen Knall habe und mich schnell zu etwas entscheide, habe ich gekündigt und bin zu Claudia nach Wien gezogen.“
Fürs Heiraten brauchen sie mehr Zeit. Im letzten Jahr haben sie sich getraut und sind aufs Standesamt gegangen. Eine Weile dauert es auch, bis der Westfale in Wien heimisch wird. Unterstützt wird er dabei von Claudia, die ihm erklärt, dass es hier nicht üblich sei, die Bäckerin oder den Trafikanten schon beim zweiten Einkauf zu duzen. Bei den Westfalen mag das ja so sein, die Wiener haben das nicht so gern. Wenn er am Meislmarkt Blumenkohl und grüne Bohnen verlangt, hört er nur, gibts nicht, haben wir nicht. Nach dem Vokabel lernen klappt es besser, denn Karfiol und Fisolen gibts am Markt.
Als der Neowiener im Geschäft hört, dass Wurst und Käse hierzulande nicht in Gramm, sondern in Dekagramm bestellt werden, tut er es den anderen gleich und verlangt 100 Dekagramm Salami, bitte fein geschnitten. „Geschnitten, fragt mich der Verkäufer ganz entsetzt. Ja, ja geschnitten. Ich hab mich gefragt, ob es hier nicht üblich ist, die Wurst zu schneiden. Dann stöhnt der Verkäufer, gibt Unmutsgeräusche von sich, verschwindet und kommt nicht wieder. Ich frag mich, wo bleibt der Kerl? Ich hab gemerkt, dass die Leute hinter mir schon ganz unruhig werden.
Endlich kommt er, gibt mir das Packerl und sagt süffisant: 100 Dekagramm fein geschnittene Salami.
Ich nehme die Wurst und hab gemerkt, dass Dekagramm eine andere Maßeinheit ist als Gramm. Ich hab mir nur gedacht, ich sag jetzt besser nix, denn er hat ein Messer und ich nicht. Claudia hat nur gelacht, wie ich heimgekommen bin und hat gesagt, na lass es dir gut schmecken. Denn sie ist Vegetarierin. Für mich hat es dann oft Salami gegeben, Salami mit Brot, mit Rührei, im Eintopf, halt immer Salami.“ Diese ersten Hürden sind lange überwunden. Andreas Goerdes ist in Wien heimisch geworden, kennt sich mit Gramm und Dekagramm, mit Karfiol und Fisolen und mit dem Wiener Schmäh bestens aus.
Auf seiner Website https://blindetomate.at/ kann man nicht nur die Produkte anschauen und bestellen, sondern findet auch Rezepte und bekommt Hintergrundinformationen zu ProduzentInnen, Lebensmitteln und Produkten.
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