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Eine Herzenssache – Eine Tastführung bei "Körperwelten"
Auf einem schwarzen Tuch ruhen eine Niere, zwei Herzen und ein menschliches Gehirn. Ordentlich sortiert liegen sie nebeneinander. „Wir haben hier ein Kniegelenk, ein Sprunggelenk und einen Fuß, das ist alles knöchern. Wobei ein paar Sehnen und ein paar Muskelansätze noch zu sehen sind“, beginnt der Medizinstudent die Führung.
„Dürfen wir es schon anfassen?“ fragt eine Frau.
Ein bisschen muss sie sich noch gedulden. Nach ein paar erklärenden Worten werden die Organe zum Berühren freigegeben. Dutzende Hände tasten suchend über das Tuch, ergreifen eine Leber oder die Milz. Finger gleiten über die Struktur des Herzmuskels, tasten Gehirnwindungen ab und erkunden die Augenhöhlen eines Schädels.
Es sind ausgewählte Exponate, die im Rahmen der Ausstellung „Körperwelten – Eine Herzenssache“ ausnahmsweise berührt werden dürfen. Rund 200 Stücke sind im Rahmen der aktuellen Ausstellung in der Wiener Stadthalle zu bestaunen. Darunter befinden sich 20 menschliche Ganzkörperexponate, die tiefe Einblicke in das Innenleben des Körpers eröffnen. Dabei steht das Herz mit seinem Gefäßsystem im Mittelpunkt der Wanderausstellung.
Um 18 Uhr schließt die Ausstellung normalerweise. Diesmal ist das anders: Während die letzten Gäste die Stadthalle verlassen, sammelt sich eine Gruppe blinder und sehbehinderter Menschen im Foyer. Sie sind gekommen, um die Ausstellung im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Zwei Guides begrüßen die Ankommenden und führen sie dann die Treppen hinunter in die Räumlichkeiten, wo das menschliche Innenleben auf Besuchende wartet.
Es ist eine exklusive Führung abseits des Trubels. Möglich wird das durch eine Kooperation zwischen dem Blinden- und Sehbehindertenverband WNB und der Wiener Stadthalle. Erich Schmid, der Leiter der Kulturgruppe im Verein, hat den Abend mitorganisiert: „Das hat sehr gut gepasst, weil die Stadthalle sich schon vorher an den Blindenverband gewandt hat und wir auch vor einem Monat eine Führung durch die Stadthalle gemacht haben.“
Das Besondere an der Führung ist, dass die blinden und sehbehinderten Teilnehmenden die fragilen Exponate betasten dürfen. So bekommen Besucher wie Mahendra Galani, der vollblind ist, einen Eindruck von den menschlichen Organen:
„Die Leber war ziemlich groß. Das Herz ist mir auch viel kleiner vorgekommen, als ich gedacht habe. Ich dachte, das hat so eine wichtige Funktion, das müsste doch viel größer sein!“
Der 14-jährige Maximilian hat seine anfänglichen Bedenken schnell überwunden: „Der Text, den man am Anfang liest, ist einfach so gruselig. Ich hatte am Anfang wirklich Angst, weil ich habe ja nicht gewusst, was da auf mich zukommt.“ Berührungsängste könnte man leicht haben, wenn man weiß, dass es sich um echte menschliche Körperteile handelt. Sie sind durch das sogenannte Plastinationsverfahren haltbar gemacht, indem Flüssigkeit und Fett entfernt und gegen Kunststoffe ausgetauscht wurden. Dadurch fühlen sich die Organe und Muskeln wie Plastik an. Die Besuchenden lassen sich davon nicht abschrecken: „Kannst du mir mal die Niere geben?“ möchte einer ein neues Organ ertasten. „Ich schenke dir mein Herz“, lacht ein Herr und reicht den Muskel weiter. „Wie liegt das eigentlich genau im Körper drinnen?“ fragt eine Dame und lässt sich das Herz in die richtige Position an ihrem Körper halten.
Zwei unterschiedlich große Herzen wandern von einer Besucherin zur nächsten. Die Guides erläutern gerne individuell wie das Herz funktioniert und aufgebaut ist. Ein Medizinstudent stellt sich neben eine Dame, und führt ihre Hand über den Muskel: „Das ist der Aortenbogen, der lässt sich am besten ertasten, auch von der Form her. Was sich auch noch ganz gut tasten lässt, das ist hier, da hat man die einzelnen Gefäße, die das Herz selber versorgen, die Koronararterien.“
Nach den Organen werden die Teilnehmenden zu den Ganzkörper-Exponaten geführt: Skelette umschlossen von roten und rosafarbenen Muskelsträngen, die Augäpfel treten im Gesicht deutlich hervor und das Gehirn ist offen einzusehen. Ein Exponat hält seine Gedärme in der Hand und präsentiert sie dem Betrachter. Jedes Detail darf heute berührt werden. Vorsichtig nimmt der Guide die Hände der blinden BesucherInnen und führt sie zu den Lungenflügeln oder lässt sie die Wirbelsäule entlang gleiten.
„Als wir den Körper angegriffen haben, war das wirklich grauslich für mich! Das muss ich sagen, es ist ein ganz ein anderes Gefühl, wenn man Einzelteile angreift. Es ist dann natürlich schwerer, sich ein komplettes Bild zu machen, wie der Körper ausschaut. Aber es ist viel leichter sich zu denken: okay, das könnte jetzt dieses Teil sein oder so, “ lacht Mahendra Galani. Eszter Czeglédi hingegen hätte gerne noch intensiveren Kontakt mit den Plastinaten gehabt. Sie macht gerade eine Ausbildung zur Heilmasseurin:
„Ich würde mir ein Ganzkörper-Präparat wünschen, das man im Liegen wirklich gut betasten könnte. Das wäre sehr hilfreich.“
Die Möglichkeit Ausstellungsstücke anzufassen, gibt es mittlerweile immer häufiger für blinde und sehbehinderte Menschen. „Wenn man sich viel mit Kultur beschäftigt, gibt es schon immer wieder Angebote. Zum Beispiel ist das Belvedere hier sehr aktiv mit seinen Ausstellungen, es gibt auch extra Führungen für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung. Einige Museen haben bestimmte Programme, das Kunsthistorische Museum hat ein paar Tastobjekte“, erzählt Kulturleiter Erich Schmid. In der Körperwelten-Ausstellung ist der inklusive Gedanke bereits verankert: Es gibt eigene Tastobjekte für die Führungen für blinde und sehbehinderte Menschen, die mit der Ausstellung mitwandern. Die Räumlichkeiten sind barrierefrei zugänglich – mit Lift und auch für Blindenführhunde zugänglich.
Langsam wandern alle Exponate – Niere, Leber oder Milz – wieder an ihren Platz. Doch die Herzen der Besuchenden pochen in entspanntem Rhythmus weiter. Ihre Gehirnzellen verarbeiten die neuen Eindrücke und Informationen. Die Finger greifen nun geschwind nach den Winterjacken. Und nicht zuletzt setzen sich ihre Fuß- und Sprunggelenke in Bewegung – und tragen sie hinaus aus der Wiener Stadthalle.
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