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Portraits

Eine Frau mit glatten, langen, dunklen Haaren sitzt auf einem Sessel mit breiter schwarzer Rückenlehne. Sie spricht zu einer Frau mit blonden Haaren, die ihr gegenüber sitzt.
Bildinfo: Die TV-Moderatorin Jennifer Sonntag stellt ihren Gästen ihre SonntagsFragen. Fernsehen und Nichtsehen ist für die engagierte Journalistin kein Widerspruch. © Jennifer Sonntag

Frauen, ermächtigt euch!

Die deutsche Journalistin, Autorin und TV Moderatorin Jennifer Sonntag setzt sich in ihrer Arbeit dafür ein, dass Menschen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, insbesondere Frauen.

Ein Portrait über Jennifer Sonntag.

Jennifer Sonntags gesellschaftspolitisches Engagement speist sich aus verschiedenen Quellen. Die ausgebildete Sozialpädagogin arbeitet 16 Jahre in einer berufsbildenden Einrichtung für blinde und sehbehinderte junge Menschen und vier Jahre als Peer Beraterin, wo sie andere Betroffene über die verschiedenen Aspekte einer Sehbehinderung oder Erblindung informiert und aufklärt. In ihrer Schulzeit wird sie als das Mädchen mit der dicken Brille gemobbt und ausgegrenzt. In der Punk- und Junkieszene ihrer Heimatstadt Halle erlebt sie Halt und Freundschaft, zugleich erfährt sie auch viel über die existentielle Not einiger Gleichaltriger. Als junge Frau ist sie damit konfrontiert, dass andere, dass sehende Mitmenschen vorschreiben (wollen), was und wie eine blinde junge Frau zu sein habe. Die Themen sind da, irgendwann beginnt sie darüber zu schreiben.

Es sei ihr schon immer darum gegangen, soziale Missstände aufzuzeigen und scheinbar Unsichtbares sichtbar zu machen. In ihrem ersten Buch befasst sich die Autorin mit der Junkie- und Punkszene von Halle. Später schreibt sie über Sehbehinderung und Blindheit, über Aussehen, Stil und Erotik. Es ärgert sie, es empört sie, wie blinde junge Frauen vielfach wahrgenommen werden, und zwar als Neutrum, als asexuell, als unattraktiv. Nein, sagt sich Jennifer Sonntag, ich bin eine junge Frau mit meinen eigenen Leidenschaften, Wünschen und Interessen. Auf die gesellschaftlichen Klischees und Vorurteile antwortet sie mit einigen Buchprojekten. Sie beschäftigt sich mit Themen wie Schönheit und Stylen und erstellt einen Schminkleitfaden für blinde Frauen. Sie verfasst erotische Texte und gibt die Anthologie Hinter Aphrodites Augen heraus, wo blinde Frauen über ihr ganz persönliches Schönheitsempfinden schreiben.


Doppelte Diskriminierung

„Es gibt“, so Jennifer Sonntag, „noch immer so merkwürdige Vorstellungen vom Leben blinder Frauen.“ Das betreffe alle Lebensbereiche, sei es Beziehung, Sexualität, äußerliche Erscheinung, Bildung, Beruf oder Karriere. „Alle emanzipatorischen Prozesse hinken immer noch hinterher, wenn es um die Frau mit Behinderung geht. Die Behinderung wird in den feministischen Debatten nicht mitgedacht. So ist eine Frau mit Behinderung doppelt marginalisiert, als Frau und als Person mit Behinderung.“ In vielen feministischen Kreisen gebe es große Berührungsängste, wenn es um Frauen mit Behinderung gehe. Die Themen Frauenrechte und Behinderung müssen erst zusammengebracht werden. Nicht nur die Frau, auch die Frau mit Behinderung will überkommene Rollenvorstellungen aufbrechen, Klischees überwinden, für ihre Rechte eintreten und selbstbestimmt leben.

Forschungen und Statistiken würden zeigen, so die Fachjournalistin, dass Frauen einerseits generell stärker von Armut, sexualisierter Gewalt, mangelnder Bildung, schlechten Jobchancen und unzureichender medizinischer Versorgung betroffen seien als Männer. „Aber auf Frauen mit Behinderung trifft dies noch in einem viel stärkeren Maße zu. Sie sind viel häufiger von sexuellen Übergriffen betroffen.“ Es ist also wichtig, aufzuzeigen wie Frauen mit Behinderungen leben und arbeiten, was Benachteiligung, Armut, Gewalt oder Übergriffe begünstigt und wie diese Strukturen verändert werden können. Es braucht einerseits den politischen Willen, Strukturen zu verändern. Andererseits auch die persönliche Ermächtigung, also Empowerment, oder um es mit Jennifer Sonntag zu präzisieren: Es braucht Fempowerment.


Feministische Einrichtungen und Frauenberatungsstellen, so die Erfahrung der engagierten Journalistin, würden sich aber oft nicht kompetent und zuständig fühlen, wenn es um Frauen mit Behinderungen gehe, wie zum Beispiel um blinde Frauen, die Gewalt erleben. „Aber behinderte Frauen, blinde Frauen müssen Hilfsangebote bekommen, sie müssen gesehen werden.“ Ein Grund, aktiv zu werden. Gemeinsam mit anderen startet Jennifer Sonntag eine Aufklärungskampagne in Halle und das Team organisiert Selbstverteidigungskurse für blinde Frauen. Fördermittel werden lukriert, Trainer und Räumlichkeiten gefunden und zwei Jahre lang werden Kurse angeboten, wo blinde Frauen lernen, sich gegen Übergriffe zu schützen und gegen Gewalt zu wehren. Die Fördermittel sind aufgebraucht, jetzt benötigt das Projekt eine verlässliche und abgesicherte Finanzierung von Seiten der Politik. „Es muss Angebote geben, die Frauen unterstützen und ermächtigen, und solche Angebote kosten was, Inklusion kostet Geld. Es wäre so wichtig, dass Dinge, die gut funktionieren, weitergeführt werden können.“

Auf der Suche nach Empowerment

Was trägt dazu bei, dass Menschen mit Behinderungen sich stark und wehrhaft fühlen, aktiv sind, selbstbestimmt handeln, sich etwas trauen und zutrauen? Das politische Klima und die gesellschaftlichen Möglichkeiten spielen genauso eine Rolle wie die sozialen und persönlichen Erfahrungen, ob in der Schule, Peer Group oder im Elternhaus. Jennifer Sonntag wächst die ersten zehn Jahre in der damaligen DDR auf. Sie wird 1979 in Halle an der Saale geboren, ihre Mutter ist zu der Zeit Kindergärtnerin, der Vater arbeitet in einer kleinen Molkerei. Das Mädchen ist von Geburt an stark sehbehindert. Dies stellt die Eltern vor eine ganz neue und schwierige Aufgabe, bei der sie kaum unterstützt werden. „Ich habe die liebsten Eltern der Welt, aber was meine Sehbehinderung betrifft, waren sie oft ratlos und überfordert, und wurden in vielen Dingen alleingelassen.“ Jennifer besucht eine Schule für sehbehinderte Kinder. In der damaligen DDR herrscht Drill in den Schulen, die Kinder stehen stramm zum Appell und fast alle sind bei der sozialistischen Jugendorganisation FDJ oder der Pionierorganisation. Jennifer gehört in der Volksschulzeit den Jungpionieren an, dann kommt die Wende. Sie ist ein ausgesprochen kluges Kind und eine sehr gute Schülerin mit ausgezeichneten Noten. Nach der achten Klasse, im Alter von 14 Jahren, kommt sie in eine Regelschule, auf ein Gymnasium.


Die DDR gibt es nicht mehr, die Wende hat in der Gesellschaft und in den Familien viele Veränderungen mit sich gebracht. Jennifers Mutter lässt sich zur Sozialarbeiterin umschulen, der Vater ist jetzt als Fernfahrer in der gesamten Bundesrepublik unterwegs. Konsumgüter, Konkurrenzkampf und Markenklamotten haben im Schulalltag Einzug gefunden. Jennifers neue Schule ist sehr groß und in dem Viertel gibt es zahlreiche soziale Probleme. Die Lehrkräfte sind auf eine Schülerin mit einer starken Sehbehinderung nicht vorbereitet und weder gewillt noch in der Lage, das Mädchen zu unterstützen und mit geeigneten Hilfsmitteln auszustatten. Bei den Mitschüler:innen ist die Neue schnell unten durch und wird ständig gemobbt. Die Schulnoten werden immer schlechter, die Lage immer aussichtsloser und verzweifelter. Hinzu kommt, dass sich das Sehvermögen noch weiter verschlechtert. Und dies alles im Alter von 14 Jahren. „Als mir bewusst wurde, dass ich erblinden werde, bin ich in die Punkszene gegangen. Ich habe dort viele rebellische Menschen um mich herum gehabt, die alle etwas zu verlieren hatten. Ich eben mein Augenlicht. Später bin ich in die Schwarze Szene gegangen, also in die Gothicszene, wo Kunst, Literatur und Musik eine große Rolle spielen. Es gab dort viele Impulse, Themen und Einflüsse jenseits vom Mainstream, die mich sehr inspiriert und gestärkt haben.“

Das stark sehbehinderte Mädchen „treibt“ sich im Alter von 14, 15 Jahren in der Punkszene herum, schließt Freundschaften, erlebt aber auch, dass Elfjährige anschaffen gehen und Gleichaltrige an einer Überdosis Heroin sterben. Die Szene gibt Jennifer Halt. Das Elternhaus bleibt aber ihr sicherer Hafen, wo sie jeden Tag isst, schläft, wohnt. Nach einem Jahr am Gymnasium kehrt sie in ihre alte Schule zurück und wagt ein Jahr darauf noch einmal den Schritt ins Regelschulwesen. Diesmal gelingt das Unterfangen. Die Mitschüler:innen sind älter und reifer, die Schule ist kleiner, die Lehrer:innen engagierter. Die junge Frau schließt die Schule mit dem Fachabitur für Sozialwesen ab.


Immer wieder beschäftigt sie die Frage, was andere Menschen mit Behinderung stark macht. Wie es dazu gekommen ist, dass sie damals am Gymnasium gemobbt wurde. Was dazu beiträgt, selbstbestimmt zu handeln. „Ich arbeite seit dem Jahr 2008 beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und habe sehr lange eigene Formate innerhalb der Fernsehsendung MDR-Selbstbestimmt moderiert, ich habe auch Seminare und Workshops zu diesem Thema gemacht. Mir war es immer wichtig zu vermitteln, dass es auch für mich nach wie vor eine Herausforderung ist, selbstbestimmt zu sein und zu leben. Dass das nichts ist, was mir in die Wiege gelegt wurde. Dass auch ich immer wieder auf der Suche nach Empowerment bin, aber dass es eben Wege gibt, die mich ermächtigen, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben.“ Für viele mag eine blinde TV-Moderatorin überraschend oder ungewohnt sein, aber für Jennifer Sonntag ist Fernsehen und Nichtsehen kein Widerspruch. Bis 2018 stellt sie beim MDR-Fernsehen ihren prominenten Gästen ihre SonntagsFragen, dann kommt ihr neues Format, es heißt Mit anderen Augen.

Beheimatet in einer Subkultur

Mit Mitte zwanzig lernt Jennifer Sonntag in der Gothicszene ihren jetzigen Partner Dirk Rotzsch kennen, der damals Keyboarder in einer Band ist. „Ich mochte diese Musik, ich bin dieser Band oft hinterhergefahren. So habe ich mich also immer wieder per Mail erkundigt, wo das nächste Konzert stattfindet und wo es Tickets dafür gibt. Es hat sich eine Mailbekanntschaft ergeben. Irgendwann haben wir uns persönlich getroffen und so sind wir zusammengekommen.“ Seit knapp 17 Jahren sind die beiden ein Paar und nach wie vor in der Schwarzen Szene verankert. Das Interesse für die Gothickultur ist ein starkes Band, das die beiden verbindet. Genauso wie die Werte und politische Haltung, die sie teilen. Für ihr gemeinsames Kunst- und Literaturprojekt Liebe mit Laufmaschen erhalten die beiden im Jahr 2018 den Mitteldeutschen Inklusionspreis Mosaik.


Wenn sich die vielseitige Journalistin, Autorin und TV-Moderatorin entspannen will, hört sie gerne Podcasts und Hörbücher, und ganz besonders liebt sie es, allein mit ihrem Blindenführhund Paul unterwegs zu sein. Essen ist eine weitere Leidenschaft von ihr. Ihr Partner Dirk arbeitet im Brotberuf als Koch- und Küchenleiter in einem Pflegeheim und kocht auch zuhause gerne. Ja, sie habe sich, als sie erblindet ist, Fertigkeiten in der Küche angeeignet, das sei ihr wichtig gewesen. Doch lasse sie sich gerne verwöhnen. „Zu essen was er kocht, ist meine Leidenschaft“, sagt sie lachend. Was trägt, neben gemeinsamen Werten und Interessen sowie einem guten Nähe- und Distanzverhältnis, noch dazu bei, dass eine Beziehung gelingt? „Dass man sich entwickelt. Dass man sich miteinander und aneinander entwickelt. Man wird ja immer wieder jemand anders. In jeder Lebensphase steht man vor neuen Fragen und verändert sich. Und dass es nicht auseinandergeht, sondern dass man sich in diesem Prozess immer wieder miteinander verflechtet, finde ich wichtig.“

Teilhabe und Vielfalt, Selbstbestimmung und Empowerment ziehen sich wie ein roter Faden durch das persönliche wie berufliche Leben von Jennifer Sonntag. Sie möchte mit ihrer Arbeit soziale Missstände aufzeigen, nicht wahrgenommene Themen aufgreifen und sichtbar machen und jenen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden würden.  

Weitere Informationen zur Person, zu den Buchtiteln und Videoclips finden Sie auf der Website von Jennifer Sonntag.

Folgende Werke von Jennifer Sonntag sind im Medibus-Katalog verzeichnet:

  • Der Geschmack von Lippenrot: Schminkschule und Imagekurs - nicht nur für blinde Frauen
  • Liebe mit Laufmaschen
  • Zigaretten danach
  • Hinter Aphrodites Augen
  • Verführung zu einem Blind Date

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