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„Ich beschreibe sehr genau, weil ich es nicht genau sehe.“
Interview mit Robert Seethaler
Robert Seethalers Romane Der Trafikant, Ein ganzes Leben oder Das Feld wurden zu großen Publikumserfolgen und in viele Sprachen übersetzt. Der Wiener Schriftsteller, geboren 1966, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Heuer im Frühjahr erschien sein neuestes Buch, Das Café ohne Namen. Anlässlich dieser Neuerscheinung haben wir Robert Seethaler zum Interview getroffen.
Der neue Roman spielt in Wien, in der Leopoldstadt, er beginnt 1966 und endet zehn Jahre später mit dem Einsturz der Reichsbrücke. Sein Protagonist heißt Robert Simon, hat denselben Vornamen und dieselben Initialen wie sein Autor. Simon wird früh Waise, der Vater kommt im Krieg um, die Mutter stirbt drei Monate später an einer Blutvergiftung. Der Bub wird in einem Heim für Kriegswaisen untergebracht und ist „zu verwirrt, um richtig traurig zu sein“. Als Simon das Heim verlässt, verdient er seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist mit seiner Arbeit zufrieden, aber er hat auch einen Traum.
Robert Seethaler, Ihre Bücher werden von sehr vielen gelesen und sehr viele kommen zu Ihren Lesungen. In Berlin, im RBB Sendesaal waren knapp über 1000 Leute und auch das Theater in der Josefstadt war vollbesetzt, als Sie Das Café ohne Namen vorstellten. Ihr Roman landete schon kurz nachdem er erschienen war, auf Platz eins der Spiegel Bestsellerliste. Herzlichen Glückwunsch zu diesem großen Erfolg.
Es ist ein schönes Gefühl, aber ich schreibe nicht, um auf irgendeiner Rangliste zu landen. Allerdings vergesse ich nie, dass hinter allen Preisen, Anerkennungen und Ranglisten immer Menschen stehen. Menschen, die das Buch lesen, die das Buch mögen. Ich denke zwar beim Schreiben niemals an die Leserin oder den Leser, aber trotzdem schreibt man das Buch, damit es gelesen wird.
Robert Simon, der Protagonist, findet bei der Witwe Martha Pohl eine Unterkunft. Als er erfährt, dass es am Markt ein Lokal zu mieten gibt, ergreift er seine Chance, pachtet es und richtet die heruntergekommene Gaststätte her. Es fällt ihm kein Name für das Lokal ein, so bleibt es das Café ohne Namen. Es ist allerdings mehr ein Wirtshaus, wo es Wein, Bier und Schmalzbrote gibt, aber auch Kaffee und Limonade. Am Abend vor der Eröffnung des Lokals packen Simon Zweifel. Hat er sich zu viel vorgenommen, kann er das Neue wagen, wird es mit dem Café gutgehen? Seine Zimmerwirtin ist zuversichtlich und meint: „Man sollte sich immer ein bisschen mehr Hoffnung als Sorgen machen.“ Die Witwe wirkt wie ein verlässlicher Halt und dieser Satz scheint die Beziehung zwischen Simon und ihr zu charakterisieren.
Er drückt vor allem aus, wie ich versuche durchs Leben zu gehen. Und dementsprechend schicke ich auch diese Menschen mit so einem Grundgefühl in die Geschichte hinein. Du kannst noch so viele Sorgen haben, aber wenn du ein bisschen mehr Hoffnung als Sorgen hast, dann lässt sich Vieles ertragen. Die Witwe gibt ihm dies ja auch nur als Ratschlag mit. Ob es klappt, weiß man nicht. Und oft bedarf es überhaupt gar keiner Ratschläge, sondern nur einer Person, die hinter einem steht, und einem durch ihre Anwesenheit die Kraft gibt, etwas Neues zu beginnen.
Wie haben Sie sich dieser Zeit angenähert, den realen Gegebenheiten, der Atmosphäre in der Wiener Leopoldstadt in den Jahren von 1966 bis 1976? Wie sind Sie vorgegangen?
Der Beginn des Buches ist auch mein Geburtsjahr. Ich habe diese Zeit erlebt, aber klarerweise habe ich die ersten Jahre nicht bewusst mitbekommen, da war ich viel zu klein, das sind eher Gefühlserinnerungen. Etwas später gibt es bereits konkrete Erinnerungen, das beginnt etwa 1972, als ich in die Volkschule Zinckgasse für sehbehinderte Kinder gekommen bin. Aber es reicht ja, wenn du ein Gefühl für den Ort hast. Du musst nicht einer Wirklichkeit hinterherschreiben, die es so eh nicht gibt oder nie gegeben hat. Der Rest ist ein bisschen Recherche. Also die Fakten, die im Buch angeführt sind, stimmen, das muss schon Hand und Fuß haben. Aber ich versuche, mit dem Schreiben eine neue, eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Eine Geschichte ist wie ein Fluss, der speist sich ja meistens auch nicht nur aus einer Quelle, sondern hat viele Zuflüsse, die man oft gar nicht nachverfolgen kann. Alles fließt ein. Es ist viel intuitiver als man denkt.
Haben Sie schon am Anfang eine klare Vorstellung, ein deutliches Bild wohin es geht oder entwickelt sich die Geschichte erst im Lauf des Schreibens?
Es entwickelt sich im Lauf des Schreibens. Ich bin ein Sammler von Augenblicken und Bildern. Dann versuche ich, diese Augenblicke nebeneinander zu setzen. Daraus ergeben sich Linien oder im besten Fall ein Feld, ein Mosaik, ein Augenblicksmosaik. Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausgeht und was alles passieren wird. Irgendwann kommen Ideen, Gedanken, es öffnen sich Möglichkeiten. Merkwürdigerweise habe ich schon von Anfang an eine ziemlich genaue Vorstellung, wie lang die Geschichte sein soll, also in Seiten. Das ist aber vielleicht auch nur so eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, ich will, dass es so lang ist und dann wird es auch so. Oder die Geschichte sagt mir: „Ich möchte nur so lange erzählt werden, danach verliere ich meine Kraft.“ Und tatsächlich passiert es immer genauso, also nicht auf die Seite genau, aber 20 Seiten auf oder ab. Und natürlich habe ich auch ein Gefühl für die Stimmung, nicht nur für den Umfang der Geschichte.
Robert Simon schuftet jeden Tag in seinem Café, zuerst allein, später stellt er Mila ein, die vorher in einer Textilfabrik war und ihre Arbeit verloren hatte. Sie erweist sich als verlässliche und tatkräftige Mitarbeiterin. Das Café ohne Namen wird zum zentralen Treffpunkt am Markt, dort gehen die „verlorenen Seelen“ ein und aus, Schichtarbeiter, Markthändler, Fabriksarbeiterinnen. Menschen, die in diesem ärmlichen und heruntergekommenen Viertel arbeiten oder leben wie der Fleischermeister, der Fischhändler Wessely oder Blaha, der im Krieg ein Auge verloren hat. Wieso ist das Karmeliterviertel zum Schauplatz Ihres neuesten Romans geworden?
Meine Großeltern waren Vertriebene aus dem böhmisch-mährischen Grenzgebiet, sie sind im zweiten Bezirk gelandet und haben dann dort gelebt. Meine Eltern auch noch. Das Karmeliterviertel war damals das klassische Arbeiterviertel. Das war noch lang vor der Gentrifizierung. Mein Großvater war Asphaltierer, die Großmutter hat in einer Großküche gearbeitet und mein Vater war Schlosser. In diesen Verhältnissen bin ich aufgewachsen, das ist meine Herkunft. Dem wollte ich noch einmal nachgehen, fragend zurückschauen. Wie hat es gerochen, wie hat es ausgeschaut, wie war es damals? Als Jugendlicher war ich oft im Prater und am Praterstern, am Praterstern habe ich auch einmal in einem Plattengeschäft gearbeitet.
Wie haben Sie damals als junger Mensch die Stadt erlebt?
Wien habe ich damals als unschöne Stadt erlebt, grau, bedrückend. Da muss man aber immer vorsichtig sein, vielleicht habe ich meine eigene Erfahrungswelt auf die Stadt projiziert, das weiß man ja nie. Ich erlebe Wien heute ganz anders. Viel heller und weiter, aber vielleicht bin auch ich heller und weiter geworden. Andererseits mochte ich auch dieses Heruntergekommene, ohne zu romantisieren. Ich kann mich erinnern, mit 15 oder 16 war ich oft in St. Marx in der Arena. Das war alles halbverfallen, das war eine Ruine, aber gerade das war das Tolle, diese Freiheiten, die es in dieser Stadt noch gab, die Möglichkeiten für einen jungen Menschen, das erscheint mir heute anders.
Robert Seethaler, Sie sind mit einer angeborenen Linsenfehlstellung auf die Welt gekommen und hatten schon früh mehrere Augenoperationen und Krankenhausaufenthalte. Als Kind mussten Sie eine Brille mit sehr dicken Gläsern tragen, sie wurden oft angestarrt und auch beschämt. Das sind schwierige Erfahrungen für ein Kind und für die Eltern ist dies mit Sorgen und Ängsten verbunden. Wie reagieren Ihre Eltern auf Ihre schriftstellerische Karriere und Ihre großen Erfolge?
Mittlerweile sind sie stolze alte Menschen. Es hätte ja niemals irgendjemand aus meiner Familie auch nur im Entferntesten für möglich gehalten, dass so etwas passiert, dass ich überhaupt einmal ein Buch schreiben könnte und dass das auch noch so erfolgreich wird, so international. Manchmal sind meine Eltern dabei, wie bei der Lesung im Theater in der Josefstadt, und dann sitzen sie dort stolz in der ersten Reihe. Das war einfach nicht zu erwarten, nicht mit dieser Voraussetzung. Es war ja alles nicht so leicht. Die ganzen Sorgen mit den Augen in der Kindheit, die vielen Arztbesuche, all das war schwierig.
Sie leben seit vielen Jahren in Berlin. Sind Sie in der deutschen Hauptstadt heimisch geworden?
Na ja. Das Wort heimisch, da muss ich nachdenken. Eine der Damen im Café ohne Namen sagt: „Ich fühl mich nur mehr heimisch in meinen Erinnerungen.“ Man kann sich überall heimisch fühlen. Aber ja, mein Sohn ist in Berlin und heimisch fühle ich mich da wo Menschen sind, die mir gefallen, die mir nahe sind, zu denen ich einen Bezug habe. Nichtsdestotrotz vermisse ich mittlerweile auch wieder Wien, wenn ich in Berlin bin.
Sie sagen, die Stille sei Ihnen wichtig. Sie mögen den Trubel, den Lärm, das Durcheinander, die ständige Bewegung nicht.
Mir ist das oft zu viel. Ich bin sehr berührbar. Deswegen muss ich auf mich aufpassen. Musik, Lautstärke und Bewegung können mich richtig angreifen. Die Stille ist wichtig, dieses scheinbare Nichts aus dem alles entsteht. Ich hab ja so etwas wie einen stillen Blick, weil ich eben schlecht sehe. Die Geschichten entstehen in mir erst dann, wenn ich die Augen schließe. Manche Leute sagen, der Seethaler sieht so genau hin beim Schreiben. Das Gegenteil ist der Fall. Ich beschreibe es genau, weil ich es nicht genau sehe. Wie das geht? Indem ich es mir erschreibe und nicht hinterherschreibe. Ich taste mich an die Dinge heran. Das meine ich, wenn ich sage, ich versuche, diese Wirklichkeit beim Schreiben neu zu erschaffen.
Danke für das Gespräch.
Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“. Roman. Claassen Verlag, Berlin 2023. 288 S., geb., € 24,-. Dieses wie auch die anderen Bücher von Robert Seethaler sind auch als Hörbuch erhältlich, außerdem liegt der Roman als eBook vor.
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