Portraits

Immer wieder einen Neubeginn wagen
Anna Eppel im Portrait
Anna Eppel hat ihr neues Zuhause, hat ihre helle, kleine Wohnung in der Seniorenresidenz mit ihren mitgebrachten Möbeln liebevoll eingerichtet. Bilder und Fotos hängen an der Wand, Bilder, die ihre ältere Schwester gemalt hat und Fotos, die von früheren Stationen ihres Lebens erzählen. Im Sommer 2020 zieht sie dort ein, doch die Probleme mit den Augen beginnen bereits einige Jahre davor. Zunächst wird am rechten, dann am linken Auge eine Makula-Degeneration festgestellt und behandelt. Als dann aber am linken Auge, ihrem „guten“ Auge eine Staroperation durchgeführt wird, kommt es zu Komplikationen. Sie hat starke Schmerzen und Blutungen, die zunächst nachlassen, später aber wieder auftreten und schließlich dazu führen, dass die Seniorin am linken Auge erblindet.
„Man begreift das ja erst langsam. Ich hab ein ganz schlimmes Jahr verbracht. Hab kein Licht vertragen, bin immer im verdunkelten Zimmer gesessen, hatte Schmerzen und aus dem Auge ist ständig Schleim ausgetreten. Nach einem Jahr habe ich es nicht mehr ausgehalten, dann wurde das Auge herausgenommen und ich habe ein Glasauge bekommen. Mein Leben hat sich sehr verändert.“
Ein engagiertes Gemeindemitglied
Jetzt muss die gebürtige Wienerin den schönen Garten und ihr selbstrenoviertes Haus in Niederösterreich aufgeben, das sie kurz vor ihrer Pensionierung bezogen hat. Jetzt muss sie auch die Leitung der Bibliothek abgeben, die sie nach ihrer Pensionierung in der Marktgemeinde Asperhofen aufgebaut hat. Dieses Projekt beginnt bereits im Jahr 2000, die Marktgemeinde will sich verändern und weiterentwickeln. Es gibt viele Ideen, unter anderem soll eine Bibliothek, eine Mediathek entstehen. Anna Eppel übernimmt dieses Projekt und findet Mitstreiter:innen. Während dem Bürgermeister so etwas wie eine Pfarrbücherei im alten Stil vorschwebt, mit geschenkten Büchern, Karteikarten und einem Tischerl zur Bücherausgabe, hat die angehende Bibliothekarin ganz andere Pläne. Sie schaut sich verschiedene Bibliotheken an, macht eine Ausbildung zur Bibliothekarin in Strobl am Wolfgangsee und entwickelt gemeinsam mit einem ihrer Mitstreiter ein geeignetes digitales System, um Bücher und Medien zu entlehnen.
Zwei Jahre dauern die Vorbereitungen. Alle arbeiten ehrenamtlich, mitunter 40 Stunden pro Woche. Dann ist es soweit und die Mediathek steht allen Bewohner:innen offen. Anna Eppel veranstaltet Lesungen und lädt einmal im Monat Kinder ein und erzählt ihnen Geschichten und Märchen. Sie macht bei einer Ausschreibung vom Land Niederösterreich für Büchereien mit und gewinnt den ersten Preis, der mit 10.000 € dotiert ist. Die Freude darüber ist groß, mit dem Preisgeld werden neue Bücher gekauft, wichtige Anschaffungen gemacht und den engagierten Mitarbeiter:innen Anerkennung gezollt. „Diese Mediathek ist wirklich ein schönes Kind geworden, darauf bin ich stolz. Und es war eine lohnende Aufgabe für mich.“
Der Abschied von dieser ehrenamtlichen Tätigkeit und ihrem Leben am Land fällt schwer. Denn die kontaktfreudige Wienerin hat in ihrer neuen Heimatgemeinde liebe Menschen kennengelernt und Freundschaften geschlossen. Der Verlust schmerzt. Ganz besonders schmerzt die begeisterte Leserin, dass sie jetzt, mit knapp 80 Jahren, kaum noch etwas sieht. Der Neubeginn im Haus Maimonides ist alles andere als einfach. Die Seniorin fühlt sich in ihrer neuen Wohnung und in ihrer neuen Umgebung wohl, aber die Coronaregeln und Lockdowns erschweren Begegnungen und Kontakte. Zeitweise ist es sehr schwer, manchmal so schwer, „dass ich im Bett fast verkomme. Aber ich habe immer wieder Glück im Leben.“ So ein Glück ist ihre Nachbarin Franziska. Die beiden Damen, die nebeneinander wohnen, lernen sich am Balkon kennen und freunden sich an. „Sie ist eine großartige Frau, sie war früher Keramikerin, und sie ist ein Mensch, der wirklich Tiefe hat. Das ist ein Geschenk des Himmels.“
Anna Eppel genießt die Gespräche mit ihrer neugewonnen Freundin. Sie erzählt ihr, dass sie schreibt und drückt ihr die Zettel mit ihren Gedichten und Texten in die Hand, die sie im Lauf der Jahre geschrieben hat. „Franziska ist später gekommen und hat gesagt: ‚Das ist ja gut!‘. Das hat mich schon sehr aufgebaut.“ Etwas Aufbauendes braucht sie dringend. Denn sie fühlt sich nicht bloß immer wieder einsam. Sie leidet auch darunter, dass sie in Gesprächen oft nach Worten suchen muss und dass ihr beim Schreiben nichts mehr einfällt. „Ich hab mir gedacht, jetzt geht es nur noch bergab. Eine Zeitlang war ich sehr depressiv, ich hatte auch Selbstmordgedanken.“ Die Gespräche mit Franziska machen ihr Mut. Aber sie hat sich auch nie gescheut, in schweren Zeiten psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Seelenschmerzen
Anna ist 14 Jahre alt, als sich dieser dunkle Schleier der Melancholie das erste Mal über ihr Leben breitet. Der depressive Zustand hält an, fällt ihren Lehrer:innen im Gymnasium auf. Die Eltern werden in die Schule gebeten und der Mutter wird empfohlen, mit der Tochter einen Psychologen aufzusuchen. „Meine Mutter ist heimgekommen und hat erzählt, dass sie der Frau Professor gesagt habe, sie als Eltern wüssten am besten, was für ihre Tochter gut sei. Und sie haben mich dann in die Tanzschule geschickt, das war natürlich ein Desaster, wenngleich ich eigentlich gern und gut getanzt habe.“
Die Eltern sind überfordert, sind vom eigenen Schicksal gezeichnet. Beide, Vater wie Mutter, sind früh Waisen geworden und mussten sich irgendwie durchkämpfen. Der Vater lernt Schuhmacher und sucht als junger Mann Halt bei den Nationalsozialisten, nach dem Krieg beim Alkohol. Auch seine Tochter Anna erlebt später, wie groß die Versuchung ist, in schwierigen Zeiten zu Wein oder Bier zu greifen. Die Mutter arbeitet in einer Klosterschule und versucht ihre beiden kleinen Töchter durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre zu bringen. „Mein Vater war ein schwermütiger Mensch, meine Mutter war da ein bissl leichtfüßiger. Ich habe von beiden was, aber ich neige auch zu Depressionen.“
Eigentlich wäre Anna gerne Schauspielerin geworden, doch mit diesem Berufswunsch stößt sie bloß auf Unverständnis. So sucht sie nach der Matura einen Job und beginnt als Horterzieherin zu arbeiten. Zu der Zeit begegnet sie auch ihrem späteren Mann, einem Kinder- und Jugendpsychologen, der der jungen Frau, die immer noch depressiv ist, ans Herz legt, sich Hilfe zu holen. „Er hat mich zu einer Psychotherapeutin geschickt. Ich hab ihr erzählt, dass ich so gerne Theater spielen möchte. Und sie hat mir geraten, es auszuprobieren. Das habe ich gemacht und die erste Prüfung mit Bravour bestanden, aber ich hab gemerkt, dass mein Talent vielleicht doch nicht reicht. Ich hab’s zumindest versucht, das hat mir einen gewissen Auftrieb gegeben.“
Anna Eppel ist 21 Jahre alt, als sie heiratet, ihr Mann ist fast 20 Jahre älter. Das Paar bekommt zwei Kinder. Er ist mit Patient:innen, Vorträgen, Untersuchungen und Statistiken beschäftigt. Sie mit den Kindern, dem Haushalt und ihrer Arbeit als Sekretärin am Pathologischen Institut der Universität Wien. Sie lässt sich scheiden, sucht eine neue Arbeit und wechselt ins Wiener Büro des International Council für Social Welfare (ICSW), des internationalen Rats für soziale Wohlfahrt. „Da habe ich ein bissl Welt geschnuppert, war bei Konferenzen in Montreal, Tokyo oder Frankfurt.“ Knapp zehn Jahre ist sie dort, doch als ihr Büro nach Montreal übersiedelt, muss sie sich einen neuen Job suchen. Bis zu ihrer Pensionierung ist Anna Eppel am Institut für Virologie der Uni Wien als Sekretärin tätig. „Das war ganz schön hart, das war wie drei Jobs, aber ich hab‘s gemeistert.“
Noch bevor sie in Pension geht, erwirbt die tatkräftige Wienerin ihr Haus am Land, richtet es gemeinsam mit Freunden her und genießt ihren schönen Garten und das neue Leben am Land. Sie ist mobil, engagiert sich in der Gemeinde, pflegt Freundschaften, freut sich, wenn ihre Tochter, die in Deutschland lebt, sie besucht und wenn ihr Sohn, der sich in Thailand niedergelassen hat, in die Heimat kommt. Es sind intensive und erfüllte Jahre.

Ein schwieriger Neubeginn
Als gesundheitliche Probleme auftreten, zunächst mit der Wirbelsäule, dann mit den Augen, wird der Alltag viel schwieriger. Aber Anna Eppel versucht immer wieder, sich ihre Situation zu erleichtern. So wendet sie sich an den Blinden- und Sehbehindertenverband (BSV WNB), wird Mitglied und ist froh, dass sie beraten und unterstützt wird.
„So habe ich ein Lesegerät und einen CD Player bekommen. Diese Dinge sind wunderbar und erleichtern mein Leben sehr. Bei meinem alten CD Player hab ich mich mit dem Vor- und Zurückspulen so abgestrudelt. Jetzt brauch ich nur noch auf den Knopf drücken und schon wird mir gesagt, wo ich bin und was es ist. Ich bin wirklich froh.“
Die weltoffene Seniorin nimmt an einer Gesprächsgruppe im BSV WNB teil und übt mit einer Mobilitätstrainerin, mit dem Langstock zu gehen. „Wir haben nur wenige Stunden gemacht, aber ich muss sagen, ich tu mir so guat. Vielleicht mach ich nicht alles ganz korrekt, aber die wichtigsten Sachen kann ich.“ Mit der Mobilitätstrainerin kehrt sie auch an einen Ort ihrer Kindheit zurück, in die Klosterneuburger Straße, zum Zuckerlgeschäft, das einst von der Stiefmutter ihrer Mutter betrieben wurde, und heuer sein 100-jähriges Bestehen feiert.
Sie kann es, aber trotzdem ist Anna Eppel nicht so gerne alleine draußen unterwegs, auch wenn der Prater nicht weit ist und zum Spazierengehen einlädt. Sie sucht eine Begleitung und gibt eine Annonce auf. Wenn sie zum Arzt muss, Einkaufen oder Spazierengehen will, ist ein syrischer Familienvater, der sich zum Pfleger ausbilden lässt, an ihrer Seite. „Wir haben uns gefunden, der Youssef ist ein sehr aktiver Mensch und er ist sozusagen für den „Außendienst“ zuständig.“ Lena, eine junge Frau und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, ist für den „Innendienst“ verantwortlich. Sie hilft ihr, die Wohnung sauber zu halten und tippt Gedichte und Texte am Computer, die Anna Eppel mit der Hand schreibt. Ein herzliches Verhältnis verbindet die beiden Frauen. Die ältere, die selbst keine Enkelkinder hat, bietet der jüngeren, die ohne Großmutter ist, an, ihre Wahlenkelin zu sein. So pflegt Anna Eppel Kontakte und Freundschaften zu Menschen verschiedener Generationen.
In der Seniorenresidenz nimmt die aufgeschlossene Wienerin an einer Gymnastikgruppe teil. Einige Frauen aus dem Haus Maimonides haben sich gefunden und gehen ins Theater, in eine Ausstellung oder in ein Restaurant. So ist es Anna Eppel im Alter von 80 Jahren, trotz aller Schwierigkeiten gelungen, sich ein neues Zuhause einzurichten, neue Menschen kennenzulernen und sich vertraut zu machen. Und noch etwas gelingt ihr. Ihre Texte, die im Laufe der Jahre entstehen, erscheinen in Buchform. Kassiber aus meinem Gefängnis lautet der Titel des Buches, das per E-Mail an friedl.eppel(at)aon.at bei der Autorin zu bestellen und zum Selbstkostenpreis von €10,00 erhältlich ist. Zur Einstimmung eine Leseprobe: Warten auf Schönwetter.

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