Portraits
Juan Ruiz – Ein außergewöhnliches Leben
Von einem kleinen Dorf in die große Welt
Als ein Professor am College zu Juan Ruiz sagt, dass er bestimmt einmal den Beruf des Lehrers ergreifen werde, lacht der Student nur und ist fest davon überzeugt, dass dies niemals der Fall sein werde. Denn er ist ein begeisterter Sportler, verbringt seine Zeit am liebsten in der Natur, hat viele Interessen und erlebt gerne aufregende Dinge. Das Dasein eines Lehrers, der die ganze Zeit mit den Kindern im Klassenzimmer verbringt, erscheint ihm langweilig und abschreckend.
Juan Ruiz, der von Geburt an blind ist, kommt 1981 in Tala, in einem kleinen Ort in Mexiko zur Welt und verbringt dort die ersten fünf Jahre seines Lebens. Es ist eine bäuerlich geprägte Gegend, die meisten sind arm, die Kinder haben kaum Bildungsmöglichkeiten, vor allem ein Kind, das blind ist. Welche Zukunftschancen hat ihr kleiner Sohn, fragen sich die Eltern und entschließen sich nach langem Hin und Her in die USA zu emigrieren. Sie lassen sich in Anaheim, in der Nähe von Los Angeles nieder, nehmen zunächst nur den kleinen Juan mit. Die fünf Brüder und Schwestern werden bei den Onkeln und Tanten untergebracht und später nachgeholt. Die beiden jüngsten Geschwister kommen in Anaheim zur Welt.
„Meine Eltern waren sehr beschäftigt, sie hatten viel zu tun“, erzählt Juan Ruiz. „Meine Mutter konnte uns Kinder nicht ständig beaufsichtigen. Ich war alles andere als überbehütet. So entwickelte ich die Fähigkeit, selbst auf mich aufzupassen. Ich lernte schon früh, meine Umgebung sehr genau wahrzunehmen. Was tun die Menschen um mich herum? Wie verhalten sie sich? Was umgibt mich? Viele Kinder, die blind sind, werden zu sehr behütet. Die Eltern sind überfürsorglich, sie erlauben den Kindern nicht, eigene Erfahrungen zu machen. Wenn die Eltern mich fragen, sage ich ihnen: ‚Unterstütze dein Kind, aber deine Unterstützung darf nicht dazu führen, dass es lebensuntüchtig, abhängig und passiv wird.“
Als der Fünfjährige auf dem Weg nach Kalifornien zum ersten Mal im Autoradio Englisch hört, muss er herzlich lachen, so merkwürdig und komisch klingen die fremden Laute für ihn. Schon bald spürt er jedoch, wie schwierig es ist, dass die meisten um ihn herum in einer Sprache reden, die er nicht versteht. Am Anfang sei es im Kindergarten schrecklich gewesen. Dann besucht er eine für amerikanische Verhältnisse kleine Schule mit ungefähr 350 Schülern, wo auch zwischen zwölf und 15 blinde Kinder unterrichtet werden. Sie wechseln zwischen Regelklasse und einem speziellen Unterricht, wo sie die Braille-Schrift und andere Fertigkeiten erwerben, hin und her. In der ersten Volksschulklasse verbringen sie nur wenige Stunden am Tag in der Regelklasse. Fünf oder sechs Jahre später sind sie fast die ganze Zeit dort. „Ein gutes Konzept“, findet Juan Ruiz. Wenngleich es nicht einfach gewesen sei für ihn, mit den anderen Kindern in Kontakt zu kommen. „Die ersten Jahre sind für ein blindes Kind die schwierigsten Jahre“, stellt er fest. Und noch etwas kommt hinzu. An Juans Schule unterrichten nur sehende Lehrkräfte. Das bedeutet, sie können den blinden Kindern nur eingeschränkt vermitteln, wie man sich am besten sicher bewegen kann. Das ändert sich, als Daniel Kish an die Schule kommt.
Eine wichtige Begegnung
Daniel Kish erblindete als Kleinkind und experimentierte schon früh mit der Echoortung. Dabei werden die Echos, die durch Klopfen, Schnalzen oder Rufen erzeugt werden, zur räumlichen Orientierung genutzt. Später beschäftigte er sich wissenschaftlich mit dieser sogenannten Klicksonar-Technik, die anschaulich und ausführlich auf der Website des Blindenverbands WNB beschrieben wird.
Daniel Kish kommt an Juans Schule, weil er seine Master-Arbeit über Klicksonar schreibt und diese Technik mit den sehbehinderten Kindern erarbeiten möchte. Juan wird Daniels erster Schüler. Der Elfjährige begegnet zum ersten Mal einem Erwachsenen, der blind ist. Er ist tief beeindruckt, er kann es gar nicht glauben, dass Daniel blind ist, weil sich dieser sehr sicher und selbstständig in einer fremden Umgebung bewegt. Juan und die anderen Kinder üben mit Daniel die Echoortung, sie nutzen die Wände zur räumlichen Orientierung, sie verwenden ihre Ohren zum „Sehen“.
Nach einiger Zeit hört Juan wieder auf zu üben und vergisst schließlich ganz auf das Schnalzen. Im Grunde benötigt er die Klicksonar-Technik in seiner vertrauten Umgebung nicht, denn sein Zuhause und seine Schule kennt er in- und auswendig. Und im Übrigen ist es für ihn gar nicht so schlimm, einmal zu stolpern oder irgendwo hineinzurennen. Als er im Alter von 13 Jahren auf eine neue und viel größere Schule wechselt, sieht die Sache ganz anders aus. Jetzt hat er große Herausforderungen zu bewältigen.
„Ich lief oft in Stangen hinein oder wurde von einer Schwingtür getroffen. Das hat wehgetan. Und das war mir vor den anderen auch sehr peinlich. Da erinnerte ich mich an Daniel und dass er zu mir gesagt hatte: ‚Du kannst diese Hindernisse hören.‘ Ich musste also Strategien entwickeln, wie ich sie wahrnehmen konnte und begann wieder, die Echoortung auszuprobieren und zu üben.“
Der Jugendliche trifft sich einmal oder zweimal im Monat mit Daniel. Der Ältere gibt dem Jüngeren wichtige Tipps, gemeinsam erkunden sie neue Orte und Juan spürt, wie wichtig es für ihn ist, von einem Menschen zu lernen, der ebenfalls blind ist.
Juan ist sportlich und möchte ins Ringerteam seiner Schule aufgenommen werden. Er lässt sich nicht davon abhalten, dass die anderen meinen, Ringen sei nichts für einen blinden Schüler, es sei viel zu gefährlich. Er will es wissen, er will es probieren. Und tatsächlich, der Teenager schafft es bei den Schulwettkämpfen ganz nach oben und gewinnt viele Preise. „Ich frage mich nicht, ob ich etwas kann. Ich frage mich, wie ich eine Sache am besten angehe, um sie zu machen. Erst wenn ich etwas ausprobiert habe, weiß ich, ob ich es machen kann oder nicht.“
Der Halbwüchsige arbeitet immer wieder mit Daniel Kish. Aus dem Schüler / Lehrerverhältnis entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft und enge Zusammenarbeit. Sie begeistern sich für das Mountainbiken, bieten Menschen mit Sehbehinderung Mobilitätstraining an. Später gründen sie gemeinsam mit anderen die Non Profit Organisation World Access for the Blind, die Menschen, die blind sind, dabei unterstützt ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.
Üben, üben und noch einmal üben
So lautet die Devise von Juan Ruiz. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass ein Mensch, der blind ist, sehr viel Übung braucht, bis er sich eigenständig und sicher in der Welt bewegen kann. „Es ist fast unvorstellbar, wie viel Übung man braucht, um dieses Ziel zu erreichen. Dann ist es einfach, aber bis es einfach ist, ist es sehr schwierig und hart.“ Deshalb empfiehlt der Mobilitätstrainer allen Eltern, dass sie ihrem blinden Kind schon früh die Gelegenheit zum Üben und Probieren geben. Auf jeden Fall, wenn es anfängt zu laufen. „Die Kinder müssen in einem geschützten Raum ihre eigenen Erfahrungen machen und viel ausprobieren dürfen. Auch ein paar kleine Missgeschicke und harmlose Unfälle sind für diesen Lernprozess unerlässlich. Nur so werden die Kinder selbstständig und selbstbewusst“, ist der Lehrer überzeugt.
Perceptual Mobility nennt Juan Ruiz seine Art des Mobilitätstrainings. Übersetzt bedeutet es so viel wie wahrnehmungsgestützte Bewegung. Es geht dabei immer um die Frage, was einen blinden oder sehbehinderten Menschen befähigt, sich nicht nur in einer vertrauten, sondern vor allem auch in einer unbekannten Umgebung sicher und selbstständig zu bewegen. Die Antwort darauf lautet: Es ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten. Wie der geübte und flexible Umgang mit dem Langstock. Die Echoortung, also die Klicksonar-Technik. Die aufmerksame Wahrnehmung der Umgebung und viel, viel Bewegung. Juan Ruiz: „Ausprobieren, viele Erfahrungen machen, viele sinnliche Eindrücke sammeln, selbst die Dinge erforschen, selbst die Lösung für ein auftretendes Problem suchen und finden. So erhältst du als blinder Mensch ein differenziertes Bild von deiner Umgebung. So wirst du immer selbstständiger. Mir war es immer wichtig, möglichst viel selbst zu gehen. Denn wenn du geführt wirst, bleiben die Regionen im Gehirn, die für die Orientierung und Navigation zuständig sind, inaktiv. Dann bist du wie ein Beifahrer. Ich aber will meine Schritte selbst bestimmen und selbst kontrollieren.“
Juan Ruiz ist weltweit aktiv, er bildet Mobilitätstrainer aus und arbeitet mit blinden und sehbehinderten Menschen. Eltern empfiehlt er, dass Kinder die Welt erforschen dürfen, dass sie schon früh mit dem Langstock vertraut gemacht werden und dass ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wie die Welt klingt. Und es ist ihm wichtig, dass sie mit Interesse bei der Sache sind. Wenn Juan Ruiz am Bundesblindeninstitut in Wien mit Kindern und Jugendlichen trainiert, fragt er sich immer, wofür interessieren sich die jungen Menschen? Was ist ihnen wichtig? Was motiviert sie? Möchten sie selbstständig in einen Handy Shop oder in eine Pizzeria gehen? Wollen sie Sport betreiben? Das Mobilitätstraining soll sie dazu befähigen, sich ihre Wünsche zu erfüllen und ihre Ziele zu verfolgen.
Seine Tätigkeit als Mobilitätstrainer führt Juan Ruiz im Jahr 2011 zum ersten Mal nach Wien. In den darauffolgenden Jahren kommt er immer wieder nach Österreich, unterrichtet in allen Bundesländern, bietet Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer an und arbeitet mit den Mobilitätstrainerinnen des Blindenverbands WNB zusammen. Ich hab‘ mich total in das Land verliebt“, erzählt er lachend und fügt hinzu: „Dann habe ich gesagt, jetzt brauche ich nur noch eine österreichische Frau.“ Und tatsächlich, er begegnet ihr, die beiden verlieben sich und im Dezember 2014 heiratet der US-Amerikaner seine Wienerin. Seitdem wohnt er hier. Seit kurzem auch sein zwölfjähriger Sohn. Der andere, er ist acht Jahre alt, lebt nach wie vor in den USA. „Ich fahre vier- bis fünfmal im Jahr dorthin, um meinen jüngeren Sohn zu besuchen. Ich bin überhaupt viel unterwegs, weil ich an vielen Orten unterrichte. Ich mache genau das, was ich tun will und ich bin glücklich und zufrieden damit. Obwohl, oder besser gesagt weil ich Lehrer geworden bin.“
Allerdings würde Juan Ruiz gerne etwas weniger arbeiten. Denn für seine Hobbies findet er kaum Zeit. Er geht gerne klettern, liest viel und hat ein Faible für Oldtimer. Sein Ford aus dem Jahre 1956 steht allerdings in den USA, denn diese großen Autos aus den 1950er Jahren brauchen mehr Platz als ihm in Wien zur Verfügung steht.
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