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Kindermund tut Wahrheit kund
„Mami, was hat die Frau?“
„Sei still!“ zischelt die peinlich berührte Mami. Das Kind, nicht so leicht zu beirren: „Was hat die Frau da für einen Stock?“
„Halt jetzt sofort den Mund“, so die schon gereiztere Mutterstimme. Die Neugierde von Kindern ist oft grenzenlos und so höre ich es sagen: „Wieso tut die Frau mit dem Stock am Boden herumwischen?“
Jetzt reicht es der Mama, denn ich höre nur mehr ein sehr aggressiv gezischtes: „Wenn Du nicht sofort still bist, dann kriegst eine!“
Offensichtlich haben sich die beiden jetzt aus meinem Umkreis entfernt, denn ich höre nichts mehr.
Entweder hat die Mutter ihr wissbegieriges Kind auf die Seite gezogen, um aus meinem Hörfeld zu gelangen, oder es ist in Androhung der Watschen tatsächlich verstummt.
Bei mir zurück bleibt ein etwas schaler Nachgeschmack. Einerseits ärgere ich mich über die Mutter, die den Wissensdurst ihres Nachwuchses so brüsk unterdrückt hat. Andererseits bin ich aber auch wütend auf mich. Ich hätte mich umdrehen und dem Kind die Lage erklären können.
Was hat die Mutter dazu gebracht, ihrem Kind so über den Mund zu fahren? War es Scham darüber, dass es laut ausspricht, was auszusprechen ein gesellschaftliches No-Go ist?
Oder hatte sie einfach keine Lust, schon wieder hundert Fragen zu beantworten?
Ich vermute, das erstere.
In den letzten Jahren bis Jahrzehnten hat sich, so meine Erfahrungen, die Einstellung zu Menschen mit Behinderung doch sehr geändert. Rollstuhlfahrer:innen sind im Straßenbild nicht mehr exotisch und auch Menschen mit Langstock und Blindenschleife am Arm immer wieder anzutreffen. Allerorts kann ich mich als blinde Frau auf zumeist freundliche Unterstützung meiner Mitmenschen verlassen, ich fühle mich als eine von ihnen.
Und dennoch gibt es da eine Barriere, eine gewisse Hemmschwelle, die einem unbefangenen Umgang manchmal im Weg steht.
„Die Frau ist blind, das ist schlimm, ein schweres Schicksal“, scheint hier die Idee dahinter zu sein.
Der betreffende Mensch könnte vielleicht gekränkt oder verletzt sein, wenn man ihn so direkt und unverblümt mit seiner Einschränkung konfrontiert.
Und unverblümt und direkt sind Kinder eben. Sie fragen, kommentieren, zeigen mit Fingern und vielleicht lachen sie sogar, weil ihnen etwas sehr komisch vorkommt.
Wenn ich es mir genau überlege, wirke ich bestimmt ein wenig komisch. Ich trage so einen weißen, langen Stock vor mir her, wische damit am Boden herum, ohne dass ich diesen kehre, bisweilen gehe ich etwas Zickzack, und dann stoße ich noch dazu manchmal irgendwo an.
Damit falle ich unweigerlich auf, vor allem den Kindern, die ja glücklicherweise von Natur aus neugierig sind. Glücklicherweise sage ich, weil Neugierde für den Abbau von Barrieren prinzipiell gut ist.
Hätte ich mich umgedreht, um die Fragen des Kindes zu beantworten, hätte es das Bild eines Menschen, der so ein langes weißes Ding braucht, um sich auf der Straße zurechtzufinden, in sein Bild von der Welt und ihren Bewohner:innen integrieren und abspeichern können. Wahrscheinlich hätte es bei einer nächsten Begegnung gar nichts Besonderes mehr dabei gefunden.
Was wird nun aber dem Kind von seinem Erlebnis in Erinnerung bleiben?
Die Mutter hat ja sehr deutlich gezeigt, dass direkte Fragen unangebracht sind, dass in der Nähe einer Person mit einem Langstock Vorsicht geboten ist. Es wird wahrscheinlich einen Anflug von Unbehagen spüren, wenn es das nächste Mal eine ähnliche Begegnung hat.
„Die Mama wird böse, wenn ich Fragen über so eine Person stelle. Da muss etwas Schlimmes dahinterstecken. Da ist es besser, nichts zu sagen.“ Das wird es im schlimmsten Fall abspeichern.
Kinder sind die zukünftigen Erwachsenen. Und wenn wir wollen, dass sie uns als solche unbefangen, mit echtem Interesse und Respekt begegnen, müssen wir zuerst der kindlichen Neugierde mit eben dieser Unbefangenheit, diesem Interesse und diesem Respekt begegnen.
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