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Mit Empathie und Augenmaß
Interview mit Marianne Kern und Elliott Edwards
Der Blinden- und Sehbehindertenverband Wien, Niederösterreich und Burgenland (BSV WNB) bietet Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit ein Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M) an. Eigens ausgebildete Trainer:innen unterstützen dabei, wieder mobil und unabhängig zu sein. Wie schaut der Arbeitsalltag einer Fachkraft für Orientierung und Mobilität aus? Elliott Edwards, Sie haben vor einigen Monaten Ihre Ausbildung abgeschlossen und sind jetzt als O&M Trainer tätig.
Elliott Edwards: Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Menschen, mit jüngeren genauso wie mit älteren. Es ist nicht so, dass ich die Technik und das Training, die ich erlernt habe, der Person A genauso weitergeben kann wie der Person B, denn jede Person ist anders, jede nimmt die Dinge anders auf. Mein Arbeitsplatz wechselt immer wieder, manchmal bin ich in Meidling unterwegs, manchmal im ersten Bezirk, dann geht die Reise nach Niederösterreich, also diese örtliche Vielfalt ist auch gegeben. Und man geht bei allen Wetterlagen hinaus, ob bei Regen oder Sonnenschein, bei Hitze oder Kälte. Ich habe aber auch im Büro zu tun, sitze beim Computer, lese und schreibe E-Mails, koordiniere mich mit Kolleg:innen, habe das eine oder andere Meeting, unterstütze Klient:innen dabei, einen Förderantrag zu stellen. Ich halte eine Wegbeschreibung fest, die wir gerade im Training gemacht haben oder bereite mich auf ein weiteres Training vor, damit ich schon weiß, wie es dort aussieht und was ich ungefähr machen werde.
Marianne Kern, Sie waren über 25 Jahre Trainerin für O&M beim BSV WNB. Was genau möchten jene Menschen lernen, die so ein Training in Anspruch nehmen?
Marianne Kern: Jede Person entscheidet für sich, welche Ziele sie mit dem Training erreichen möchte. Das kann ganz unterschiedlich sein. Die älteste Klientin, die ich je hatte, war 92 Jahre alt und stark sehbeeinträchtigt. Sie hat alleine gelebt und wollte ohne Hilfe in der Lage sein, ein- oder zweimal am Tag um ihren Häuserblock zu gehen. Sie wollte nicht immer darauf warten, dass jemand kommt und mit ihr ins Freie geht. Das haben wir dann geübt. Sie wollte keine anderen Wege machen, keine Straßen überqueren, keine Verkehrsmittel benutzen. Sie wollte nur um ihren Häuserblock gehen, zuverlässig ihre Haustür wiederfinden und sicher sein, dass ihr unterwegs nichts passiert. Es war für sie eine große Genugtuung, wieder jederzeit ihren kleinen Spaziergang machen zu können.
Ganz anders ist die Situation, wenn jemand mitten im Erwerbsleben steht und aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls erblindet.
Marianne Kern: Die Voraussetzung für viele Arbeitsstellen ist ja, dass man mobil ist. Dann lernt man wirklich alles von Grund auf, also das komplette Programm. Man muss zunächst einmal lernen, den eigenen Körper zu schützen und sich möglichst verletzungsfrei zu bewegen. Man lernt, den weißen Langstock zu benützen, das ist eine eigene Technik, die man sich erst aneignen muss. Erst dann können Orientierungsmethoden erarbeitet werden. Man übt, sich drinnen und draußen zu bewegen. Draußen zuerst in einem ruhigen Gebiet, dann unter immer mehr Menschen. Danach lernt man, Straßen sicher zu überqueren, zuerst verkehrsberuhigte Seitengassen, später Straßen mit Zebrastreifen oder ampelgeregelten Kreuzungen. Man bereitet sich auf bestimmte Situationen vor, also wie man mit Passant:innen, Hindernissen oder parkenden Autos umgeht. Man lernt, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen. Es geht also zuerst immer um die Frage, wie mache ich es. Erst wenn man sich diese Techniken angeeignet hat, kann man anfangen, die einzelnen Wege zu üben.
Wie lange braucht es, wieder mobil zu werden, zum Beispiel bei einer Person, die 35 oder 40 Jahre alt ist, die gesehen hat und erblindet ist?
Marianne Kern: Das ist schwer zu sagen, aber im Schnitt würde ich meinen, dass ein O&M Training in so einem Fall zwischen 40 und 60 Stunden dauert. Es kommt aber auch drauf an, wie oft die Person in der Woche trainieren kann, denn es ist sehr anstrengend. Manche wollen zweimal pro Woche, andere nur alle 14 Tage. Es ist auch notwendig, dass es zwischen den Trainingsstunden Pausen gibt, damit man auch alleine üben kann. Es ist wichtig, jeden Schritt zu üben, denn es nützt nichts, den nächsten Schritt zu trainieren, also zum Beispiel ein Verkehrsmittel zu benützen, solange die Person noch Angst hat, alleine vor die Türe zu gehen.
Was erfordert diese Arbeit? Was müssen O&M Trainer:innen mitbringen, abgesehen davon, dass sie die verschiedenen Techniken und Fertigkeiten vermitteln können?
Marianne Kern: Es muss einem die Arbeit mit Menschen liegen. Es ist immer ein Einzeltraining, man muss in der Lage sein, die Klient:innen richtig einzuschätzen und sich auf sie einzustellen. Dass man sie weder über- noch unterfordert, dass man das richtige Maß findet. Man braucht ein Gespür dafür, wie es dem Menschen geht, mit dem ich arbeite. Geht es ihm noch gut oder besteht immer noch die Angst, bestimmte Schritte alleine zu machen? Dass man also sein Trainingsprogramm nicht einfach abspult, sondern wahrnimmt, wie es dem Menschen geht und was gerade gebraucht wird. Ich glaube, diese Empathie ist am wichtigsten.
Wie erkennt man, wo die jeweilige Person gerade steht? Oder anders gefragt, welche Rolle spielt dabei der Dialog?
Marianne Kern: Der Austausch und das Reden sind sehr wichtig. Dabei ist auch wichtig, herauszuhören, was nicht gesagt wird. Denn viele Menschen, die noch im Berufsleben stehen und ein O&M Training machen, sind ja aufgrund des Sehverlusts völlig herausgerissen aus ihrem früheren Leben. Sie haben vielleicht noch gar nicht akzeptiert, in welcher Situation sie jetzt sind. Gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass sie dieses Training machen müssen, weil sie den neuen Job brauchen. Da muss man als O&M Trainer:in auch einen Blick für diese Überforderung haben.
Was ist zu tun, wenn beim Training nichts weitergeht, wenn zum Beispiel beim Stocktraining keine Fortschritte erzielt werden können?
Marianne Kern: Man muss hinterfragen, warum nichts weitergeht. Es stellt sich oft heraus, dass einfach die Angst zu groß ist und dass diese Hürde noch gar nicht genommen ist. Dann kann man versuchen, mit kleinen Übungen Sicherheit zu gewinnen. Aber es kann auch sein, dass die Person noch gar nicht bereit ist zu trainieren, dass man es also erst wieder zu einem späteren Zeitpunkt versucht. Möglicherweise wird zunächst einmal psychotherapeutische Unterstützung benötigt oder es hilft, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, um so für den nächsten Schritt wirklich bereit zu sein. Denn ganz oft kommt der Druck, so ein Training zu machen, von außen.
Der BSV WNB bietet nicht nur O&M Trainings an, sondern seit 2019 auch eine Ausbildung zur Fachkraft für Orientierung und Mobilität, und zwar erstmals in Österreich. Sie haben gegen Ende Ihrer Berufslaufbahn, Sie sind seit Anfang 2020 in Pension, diesen Lehrgang erarbeitet. Was war Ihnen bei der Konzeption des Ausbildungslehrgangs ganz besonders wichtig?
Marianne Kern: Einerseits war es mir wichtig, die Ausbildung den österreichischen Gegebenheiten anzupassen. Denn hierzulande ist die Barrierefreiheit oft anders als in Deutschland, zum Beispiel was die Blindenakustik bei den ampelgeregelten Kreuzungen betrifft oder die taktilen Bodenleitlinien in den U-Bahn-Stationen. Die gibt es in Deutschland noch kaum und so lernt man dort bestimmte Methoden, aber es bringt nichts, etwas zu lernen, was wir hier nicht brauchen. Wir sagen unseren Klient:innen, dass sie diese taktilen Bodenleitlinien benützen sollen. Andererseits war es mir ein Anliegen, die Ausbildung noch praxisorientierter zu gestalten. Das Um und Auf ist für mich, dass die Auszubildenden alle Fertigkeiten und Techniken selbst erlernen, wie wenn sie selbst blind oder sehbeeinträchtigt wären. Das heißt, sie müssen unter die Augenbinde gehen und alles lernen, so wie jeder blinde Mensch. Wenn man in dieser Rolle ist, erlebt man auch diese Schwierigkeiten. Und bei der Arbeit kommt es immer wieder darauf an, wie empathisch ich als O&M Trainer:in bin. Dann muss ich mich nur erinnern, wie es mir in dieser oder jener Situation ergangen ist und weiß genau, wie ich dieses oder jenes sagen muss.
Elliott Edwards, Sie haben Ihre Ausbildung, wie gesagt, erst vor einigen Monaten abgeschlossen. Sie haben viele Übungen unter der Augenbinde gemacht und verschiedene Techniken erlernt, die ein blinder oder stark sehbehinderter Mensch braucht, um selbstständig unterwegs sein zu können. Nennen Sie uns bitte ein Beispiel.
Elliott Edwards: Wie wir die Langstocktechnik gelernt haben, waren wir auf der Hauptuni Wien. Wir durften dort die langen Gänge zum Üben nutzen. Wir Auszubildende sind blind hineingeführt worden. Das heißt, wir konnten uns kein Bild von der Örtlichkeit machen. Dann haben wir die Langstocktechnik geübt, also die Grundhaltung mit dem Langstock, die Pendelbreite, den Pendelrhythmus. Das bedeutet, der linke Fuß geht vor und der Langstock pendelt zur rechten Seite, um den nächsten Schritt abzuklären. Dann geht der rechte Fuß vor und der Langstock pendelt zur linken Seite. Bis man dies erlernt, bis sich dieser Rhythmus automatisiert, kann es schon ein bisschen brauchen. Auch die Pendelbreite muss passen, dass ich also ein bisschen breiter pendle als meine breiteste Körperstelle ist, denn dann komm ich überall durch und stoß nirgendwo an. Wir haben immer wieder Feedback bekommen und Korrekturen erfahren. Rhythmus – Breite – Rhythmus – Breite, es war für mich gar nicht so einfach, dass ich da gut reinkomme.
Welche Rolle spielen die anderen Sinne, wenn man unter der Augenbinde verschiedene Techniken und Fertigkeiten erlernt?
Elliott Edwards: Wenn man mit geschlossenen Augen übt, fordert das die anderen Sinne. Das Hören ist zu meinem Sehen geworden. Wir haben bei der Ausbildung auch immer wieder Übungen gemacht, um unser Gehör zu schulen. Es ist zum Beispiel darum gegangen, Geräusche zu erkennen, zu lokalisieren, deren Entfernung einzuschätzen oder aufgrund von Schallveränderungen wahrzunehmen, wann ein bestimmtes Objekt erreicht sein könnte.
Was haben Sie und Ihre Kolleg:innen im Hauptgebäude der Universität Wien noch geübt?
Elliott Edwards: Wir haben auch Treppentechniken erlernt, also Treppe rauf, Treppe runter. Dann ist es um die Orientierung gegangen, also wie orientiere ich mich zum Beispiel aufgrund von Himmelsrichtungen in einem Gebäude. Dass ich also beispielsweise weiß, hier ist das nordwestliche Eck, hier gibt es eine markante Stelle, weil dort der Kasten mit dem Defibrillator hängt und so kann ich meine Orientierung im Raum aufbauen. Diese Ausbildung war sehr systematisch. Am Ende der Ausbildung konnten wir sagen, wir fühlen uns sicher, unser Wissen weiterzugeben, werden aber trotzdem noch sehr, sehr viel dazulernen. Ich sehe es ein bisschen wie bei einem Koch, der gerade seine Ausbildung fertig gemacht hat. Er kann schon kochen, aber er wird im Lauf der Zeit auf neue Rezepte stoßen und neue Zugänge kennenlernen. Im Bereich O&M gibt es noch sehr viel, was man sich an Wissen aneignen kann und da schaue ich neugierig und freudig in die Zukunft.
Danke für das Gespräch.
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