Portraits
„Sibirien hat viel bewegt“
Als Patrick Bitzinger am Flughafen Wien stand, war er angenehm aufgeregt. Er hatte das Gate erreicht, und wartete geduldig mit zahlreichen Reisenden auf das Boarding. Als endlich der Aufruf kam, passierte der Mittzwanziger wie alle anderen die letzte Kontrolle: Der Boarding-Pass wurde von der Stewardess eingescannt – alles in Ordnung – und schon saß der junge Mann im Flugzeug nach Moskau.
Seine Sehbehinderung begleitet Patrick Bitzinger bereits seit dem 7. Lebensjahr. Im Alter von 14 Jahren nimmt sein Sehvermögen rapide weiter ab – mit weniger als einem Prozent Sehvermögen ist er seither blind. Das hält ihn nicht davon ab, seine Fähigkeiten zu leben: Er intensiviert sein Training im Radfahren auf dem Tandem – und wird sogar Staatsmeister.
Reisen mit Sehbehinderung
Mit einer Sehbehinderung zu reisen, war für Patrick Bitzinger bislang noch nie ein Problem gewesen. Auch diesmal funktionierten die Special Services einwandfrei: Ein Assistent begleitete ihn vom Check-In zur Sicherheitskontrolle und schließlich zum Boarding.
„Ich war zwar schon öfter am Flughafen in Wien, aber ich kenne mich dort nicht wirklich aus. Das ist wie ein Irrgarten.“, erzählt der junge Reisende.
Der unbekannte Moskauer Flughafen hingegen war nur eine Zwischenstation, der Weg zum nächsten Gate mit Unterstützung schnell gefunden. Einen weiteren Flug sowie insgesamt neun Stunden später entstieg Patrick Bitzinger dem Flugzeug an seinem Ziel: Tomsk, eine große Stadt im Westen Sibiriens – im Herzen Russlands.
Eigentlich war Sibirien nicht das erste Reiseziel, das er für dieses Mal im Kopf gehabt hatte. Ursprünglich wollte der reiselustige Mann in ein englischsprachiges Land fahren und dort an einem Sprachcamp teilnehmen. Aber dann lernte er auf der Fab4You, der Veranstaltung „Freizeit – Ausbildung – Beruf“ im Louis Braille Haus für blinde und sehbehinderte Jugendliche, den Verein Grenzenlos kennen. Barbara Eglitis vom gemeinnützigen Verein erzählte ihm von den Workcamps, die sie anbieten. Grenzenlos vermittelt Freiwilligenarbeit weltweit, und legt mit dem „Melange-Programm“ besonderes Augenmerk auf Inklusion. Bereits seit mehr als 20 Jahren ermöglichen sie barrierearme Workcamps für Menschen mit Behinderungen innerhalb Europas.
Die gemeinsame Sprache innerhalb der Workcamps ist Englisch. Die Kombination aus Konversation, Freiwilligenarbeit und kulturellem Programm sprach Patrick Bitzinger an. Jetzt hieß es nur noch, ein passendes Projekt auszuwählen: Mitarbeit bei einer Weinlese in Griechenland, bei einem Bierfestival in Italien oder im Botanischen Garten in Tomsk, Sibirien?
Umgeben von 6.000 Pflanzen
Dass Patrick Bitzinger schließlich inmitten von tausenden Pflanzen im 31 Meter hohen Gewächshaus landen würde, war auch Zufall. Denn von vier ausgewählten Projekten bekam der reiselustige Mann vom Botanischen Garten die schnellste Zusage. Angeschlossen an die Staatliche Universität Tomsk bietet dieser eine der größten botanischen Sammlungen in der nördlichen Hemisphäre. 18 Abschnitte beherbergen ein jeweils spezifisches Mikroklima, insgesamt 1.700 tropische und subtropische Pflanzen finden hier eine Heimat. In neun Laboratorien werden umfassende Forschungen an Heilpflanzen und seltenen Arten durchgeführt.
„Ich hatte ja keine Vorstellung davon, was ein Botanischer Garten ist“, staunt der junge Reisende. Mit tausenden unterschiedlichen Pflanzenarten hatte er nicht gerechnet. Doch die Vielzahl an Laubbäumen lässt schnell heimatliche Gefühle aufkommen: „Am Anfang habe ich gedacht: Ich bin eigentlich im Waldviertel.“
Interkulturelle Gruppe im Uni-Leben
Bevor er den Botanischen Garten kennenlernt, wird Patrick Bitzinger am Flughafen Tomsk von dem Projektleiter des Workcamps abgeholt. Gemeinsam fahren sie zum Universität-Campus: Dort lernt er nach und nach die insgesamt sieben Teilnehmenden kennen. Es ist eine internationale Gruppe, die die nächsten elf Tage zusammenarbeiten wird und sich aus jungen Menschen aus Polen, Indonesien, Japan und Mexiko zusammensetzt. Dem 24-jährigen Niederösterreicher gefällt die interkulturelle Atmosphäre in der Gruppe: „Was ich cool gefunden habe, waren die verschiedenen Leute aus den verschiedenen Ländern. Der Indonesier war ein ganz ein lockerer Typ. Die Japanerinnen waren zurückhaltender. Das war spannend.“
Untergebracht werden die Teilnehmenden in einem Studentenwohnheim am Universitäts-Campus. Da das Workcamp Mitte August startet, ist es anfänglich sehr ruhig am Campus. Noch sind Ferien für die Studierenden. Doch bereits eine Woche später füllen sich die Gänge, kurz vor Semesterstart wird es lebendig und ein Stimmengewirr hallt im Treppenhaus wider.
Pflanzen, Kultur und Kulinarik
Davon bekommt die Workcamp-Gruppe im riesigen Gartengelände und im Gewächshaus wenig mit. Jeden Vormittag treffen sie hier die Gärtnerinnen und Gärtner für die tägliche Arbeit. Sie tragen gefällte Bäume zum Verrottungsplatz und kehren abgefallene Blätter zusammen. Ihre Hände stecken in der Erde, sie versetzen Blumen oder lockern den Boden. Nach einigen gut gefüllten Arbeitsstunden im Botanischen Garten startet ein abwechslungsreiches Nachmittagsprogramm. Die Gruppe wird sowohl durch das Historische Museum als auch in das Stalin-Museum geführt, um die Geschichte des Landes besser kennen zu lernen. Zusätzlich kommen externe Vortragende in die Universität und erzählen der Workcamp-Gruppe über Recycling in Tomsk, teilen ihre Expertise zu veganer Ernährung oder Fast Fashion. „Ich hätte mir ein bisschen mehr Arbeit vorgestellt, aber die Uni hat auch einen Bildungsauftrag“, analysiert Patrick Bitzinger das Programm. Die Freizeitgestaltung am Abend bleibt meist den jungen Erwachsenen überlassen, denn auch Freizeit ist bei einem Workcamp vorgesehen, um eigenständig Neues zu entdecken.
„Ich habe circa 15 Mal Faschiertes gegessen. Ich kann kein Faschiertes mehr sehen“, lacht Patrick Bitzinger über die kulinarische Auswahl in der Universitäts-Mensa, wo die Gruppe täglich speist. Da kommt das internationale Dinner gerade recht: Jeder Workcamp-Teilnehmende kocht eine typische Speise aus ihrem oder seinem Heimatland. Der Indonesier verwandelt in Windeseile Reis in das Nationalgericht „Fried Rice“. Mexikanische Tacos werden neben japanischen gebackenen Reisbällchen und polnischen Erdäpfel-Puffern platziert. Dazu gesellt sich noch ein österreichischer Apfelstrudel. Der Abend wird zum kulinarischen Highlight der Woche!
Selbstbestimmtes Reisen
Als Patrick Bitzinger aus dem Flugzeug in Tomsk steigt, hat er sein Ziel erreicht. Er ist angekommen, nicht nur in Sibirien, sondern auch bei sich selbst. „Das ist der letzte schwarze Fleck auf meiner To Do-Liste: Alleine mit dem Flugzeug zu reisen. Das war mir wirklich wichtig. Und das hat alles super funktioniert“, feiert er seinen Erfolg. Auch aus diesem Grund hatte er seinen Urlaub letztendlich allein geplant:
„Ich weiß, dass ich sehr selbstständig bin, und das hat mir nochmal für mich eine Bestätigung gegeben. Dass es nicht vieles gibt, was ich nicht alleine machen kann.“
Anfang des Jahres war der weltoffene Mann bereits in Südostasien unterwegs gewesen. Er reiste gemeinsam mit zwei Freundinnen, zuerst nach Bangkok und dann von Nordvietnam bis ins Mekong-Delta hinein. Im Nationalpark Phong Na-Ke Bang bestritten sie ein zweitägiges Dschungel-Abenteuer, erkundeten vier riesige Höhlen und übernachteten in Zelten in der Wildnis. Dabei wurden sie von kundigen Guides begleitet, die sich im unwegsamen Gelände um die Sicherheit der Gruppe sorgten:
„Die haben ein bisschen Angst gehabt. Weil sie einen Blinden dabeihatten. Ich mag das einfach nicht, wenn man sich um mich so kümmert. Auf jeden Fall hab ich dann zwei Bodyguards mit mir gehabt: Einen vor mir, einen hinter mir, damit mir ja nichts passiert“, erklärt Patrick Bitzinger die Situation.
Gerade deswegen hat er die Reise nach Sibirien, nach Tomsk, anders erlebt: „Das Wichtigste an der Reise war nicht der Inhalt des Camps. Wichtig ist einfach für mich die Selbstbestimmung. Das ist etwas Großes.“ Ganz egal, ob Patrick Bitzinger nun dieses oder jenes Ziel seiner Bucket Liste ansteuern wird – Brasilien, Kanada oder die USA: Er weiß, dass er jederzeit alleine reisen kann. „Ich liebe Extreme“, sinniert er und überlegt, ob er nicht einmal zum Nord- oder Südpol fahren wird. Jedenfalls hat ihn seine Zeit in Sibirien zu neuen Ideen inspiriert: Wie wäre es wohl, zukünftig auf einem Kreuzfahrt-Schiff zu arbeiten? Denn Patrick Bitzinger ist noch jung. Und er möchte noch viel erleben.
Patricks Video aus der BSVWNB-Reihe "So sehe ich"
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