Portraits
„Singen tu ich schon immer gern.“
Corinna Pöppel im Portrait
Zweimal pro Woche geht Corinna Pöppel zur Chorprobe. Sie singt im Louis Braille Chor und ist beim Chor ohne Grenzen dabei. Das Repertoire des Louis Braille Chors reicht von klassischer weltlicher und geistlicher Musik bis zu den Beatles. Im Chor ohne Grenzen werden vor allem Pop Songs gesungen. „Ich hab schon als drei- oder vierjähriges Kind gerne mit meiner Mama und meiner Oma gesungen. Melodien habe ich mir ganz leicht gemerkt.“ Seit dem Jahr 2016 ist Corinna Pöppel beim Louis Braille Chor, der als Verein organisiert ist. Weil sie gerne singt, aber auch, weil sie die Gemeinschaft schätzt. Die Chormitglieder, blinde wie sehende, unterstützen einander. Es werden Freundschaften geschlossen und es gilt auch dann zusammenzuhalten, wenn die Stimmung einmal nicht so gut ist. „Das gibt es ja in jedem Verein, dass man nicht immer mit allem einverstanden ist. Dass man ganz unterschiedlicher Meinung ist.“ Die junge Sängerin mit der Sopranstimme engagiert sich im Vorstand des Vereins und bringt als Stellvertreterin des Obmanns und als eines der jüngsten Chormitglieder frischen Wind hinein. Wenn es um ihre persönliche Lieblingsmusik geht, sind die Grenzen weit gesteckt. „Ich bin für ganz verschiedene Richtungen offen. Ich mag Musik, die mich berührt, die mich fesselt, das kann was Klassisches sein, das kann Folk und Pop Musik sein.“
Als Schülerin singt sie im Jugendchor des Bundesblindeninstituts (BBI), beschäftigt sich im damals angebotenen Musikorientierungslehrgang mit Instrumentenkunde und Musikgeschichte und lernt Klavier und Gitarre. „Ich hab mit Klavier angefangen, da war ich 14 oder 15 Jahre alt, und später mit Gitarre. Ich war ein bissl enttäuscht, dass ich auf der Gitarre von den Fingern her so patschert war. Ich hab die anderen beneidet, die es besser konnten. Weiß nicht, die anderen haben alle früher angefangen. Mein Hauptinstrument war immer die Stimme.“ Es fällt Corinna schwer, im Alter von 14 Jahren ihre Familie und Freund:innen, ihre vertraute Umgebung und ihren oberösterreichischen Heimatort Gunskirchen zu verlassen und ins BBI nach Wien zu gehen. Sie hat starkes Heimweh, kennt niemanden, weder in der Schule noch im Internat. Sie will in die Handelsschule, aber es stellt sich heraus, dass sie zunächst einmal einige Wissenslücken schließen muss. So besucht sie zuerst den Polytechnischen Lehrgang. Dann noch einen in Telekommunikation, denn auch im Fach Informatik muss sie einiges nachholen. Es folgen drei Jahre Handelsschule am BBI. Es ist für die Jugendliche nicht einfach, dass sie jetzt immer mit anderen zusammen ist, wenn sie lernt oder ihre Aufgaben macht. Von zuhause her ist sie es gewohnt, ein eigenes Zimmer zu haben und dass es still ist, wenn sie für die Schule arbeitet. Oft ist es ihr zu laut, oft fehlt ihr ein Rückzugsort.
Mit der Zeit lebt sich der Teenager gut ein, schließt Freundschaften und will auch an den Wochenenden öfters in Wien bleiben. „Es war dann mit den Freundinnen im Internat viel lässiger als zuhause. Denn ich war zuhause irgendwie fremd geworden und von den Gleichaltrigen weg. Ist schon schwierig, bist auf einmal im Heimatort fremd.“ In ihrer Internatsgruppe im BBI sind noch fünf, sechs andere Mädchen. Zuerst teilt sie sich ein Zimmer, später hat sie eines für sich allein. Die Mädchen frühstücken zusammen und eines von ihnen ist immer dafür verantwortlich, das Frühstück herzurichten. Die Erzieherinnen unterstützen sie beim Lernen und gestalten auch die Freizeit mit ihnen. „Ich kann mich gut erinnern, wie wir im Ronacher das Musical Frühlingserwachen gesehen haben, das hat mir so gut gefallen.“ Corinna Pöppel sagt, es habe Vorteile, dass sie beides erlebt habe, die Integration in der Regelschule und die blindenspezifische Ausbildung im BBI.
„Wenn du nur im BBI bist, ist das vielleicht wie so ein Schutz, wie so unter einer Glasglocke, alles eben für Blinde. Ich hab den Kontakt zu Sehenden auch gehabt und weiß, wie es da draußen ist, leider net immer so schön, aber meine Volksschulzeit war sehr schön.“
Die Volksschule besucht das Mädchen nicht in seinem Heimatort Gunskirchen, wie es seine Mama gern gehabt hätte. Dort sei man nicht bereit gewesen, ein blindes Kind aufzunehmen. Die Mutter sucht weiter nach einer geeigneten Schule, denn sie möchte, dass ihre kleine Tochter zuhause leben kann und nicht im Alter von sechs Jahren ins Internat muss. Im Nachbarort klappt es und Corinna besucht die Regelschule in Krenglbach. „Da ist es mir sehr gut gegangen. Das waren eigentlich die schönsten Jahre. Da habe ich meine beste Freundin kennengelernt, die Stefanie.“ Die beiden Kinder verbringen viel Zeit miteinander, sowohl in der Schule als auch in der Freizeit. „Wie dann meine Freundin nach der Volksschule ins Gymnasium gegangen ist und ich in eine andere Schule gekommen bin, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Du willst mit deiner besten Freundin zusammen sein und mit ihr spielen.“ Die Freundschaft zwischen den beiden, sie sind heute Anfang Dreißig, besteht noch immer. Stefanie ist Corinnas Trauzeugin. Aber die zwei Freundinnen leben an ganz unterschiedlichen Orten und sehen sich inzwischen nur noch selten. „Als Kind habe ich immer davon geträumt, dass wir nebeneinander wohnen. Denn wir haben schon damals in verschiedenen Ortschaften gelebt. Sie hat zu mir immer gesagt: Du bist etwas Besonderes, weil du hörst zu, wo andere schon nicht mehr zuhören. Also ich hab halt bemerkt, wenn es jemanden nicht gut gegangen ist.“
Nach der Volksschule muss Corinna nicht nur den Abschied von ihrer besten Freundin verschmerzen, sondern sich in der Hauptschule in eine ganz fremde Klasse hineinfinden. „Da ist es mir nicht gutgegangen, die Integration in die Hauptschule hat nicht gut funktioniert.“ Die Lehrer:innen geben sich zwar Mühe, doch es gelingt ihnen nicht, den Mitschüler:innen ein gewisses Verständnis dafür zu vermitteln, dass Corinna aufgrund des Blindseins ganz bestimmte Dinge braucht. „Bei den Ausflügen hat mich oft mein Stützlehrer geführt. Für mich war es halt so, als hätten mich die anderen als Last empfunden, war oft ein komisches Gefühl. Die anderen haben auch gemeint, ich werde bevorzugt und der Stützlehrer würde mir bei den Schularbeiten alles ansagen. Sie haben einfach nicht verstanden, was seine Aufgabe ist.“
Das Mädchen wächst mit Mutter, Stiefvater und seinem neun Jahre jüngeren Bruder auf. An seinen leiblichen Vater erinnert es sich nicht. Er stirbt als es ein Jahr alt ist. Als Kind hört Corinna von der Mutter, der Vater sei schwer krank gewesen. Später fragt sie nach, will wissen, welche Krankheit er hatte. „Meine Mama hat es mir dann erzählt, dass er leider Suizid begangen hat. Wie erzählst du es einem Kind? Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, war er ja auch krank, psychisch krank.“ Die Mutter versucht ihrer elfjährigen Tochter zu erklären, dass es der Vater schon als Kind sehr schwer gehabt habe, dass er sehr gelitten habe. Und dass später noch andere Dinge dazu gekommen seien, die zu seinem tragischen Tod geführt hätten. In Corinnas Erinnerung ist der Stiefvater schon immer da. „Aber das hab ich auch erst einmal verstehen müssen, wenn die Mama gesagt hat, das ist dein Papa, aber er ist nicht dein leiblicher Papa.“
Corinna ist von Geburt an sehbehindert. Der Sehnerv hat sich nicht ausreichend entwickelt. Sie kann nur zwischen hell und dunkel unterscheiden und sehr starke Farben wie Rot, Orange oder Blau wahrnehmen. Sie erkennt keine Umrisse, erkennt also nicht, ob etwas eckig oder rund ist. „Ich seh auch nicht, ob jemand ein Wimmerl auf der Nase hat“, fügt sie lachend hinzu. Im Jahr 2006 kommt sie ins BBI in Wien. Dort erwirbt sie wichtige Kenntnisse und Fertigkeiten, schließt Freundschaften, macht ihre Berufsausbildung. Sechs Jahre verbringt sie dort, im Alter von 20 verlässt sie Schule und Internat. Sie erfährt, dass in der Telefonzentrale der Universität Wien ein Job frei geworden ist, bewirbt sich, wird genommen und fängt im Sommer 2013 dort zu arbeiten an.
„Wenn man aus dem BBI herauskommt, muss man erst lernen, selber Entscheidungen zu treffen. Das wird dir im Internat vielleicht zu sehr abgenommen.“
Im Louis Braille Haus des Blinden- und Sehbehindertenverbands (BSVWNB) bezieht die junge Frau ein Zimmer und genießt ihre neue Freiheit und Selbstständigkeit. Jetzt kann sie, jetzt muss sie selbst entscheiden, wann sie aufsteht, was sie isst, wie sie den Tag verbringt. Beim Einstieg ins Arbeitsleben wird sie von der Arbeitsassistenz unterstützt und sie erhält auch ein Mobilitätstraining, um den Weg zum Arbeitsplatz sicher zurücklegen zu können.
Es ist ein ereignisreicher Sommer. Im Juni 2013 schließt Corinna Pöppel ihre Ausbildung ab, zieht in ihr eigenes kleines Reich, steigt im August ins Berufsleben ein und lernt am Ende des Sommers ihren späteren Mann Manuel kennen. „Wir hatten beide ein Zimmer im Blinden- und Sehbehindertenverband. Eines Abends sind wir uns dort in der Gemeinschaftsküche zum ersten Mal begegnet. Wir haben dann bis Mitternacht miteinander geplaudert.“ (Lacht) Die beiden verstehen sich gut und treffen sich öfters zufällig im Haus. „Ich war am Anfang vorsichtig, war eh so beschäftigt mit mir selber, mit dem Umzug und der Arbeit. Aber dann waren wir einmal im Kino und danach noch mexikanisch essen, das war sehr nett. Von da an waren wir viel beisammen.“ Sie kochen und essen miteinander, schauen fern, unternehmen Ausflüge, Corinna zeigt Manuel die Gedichte, die sie am Laptop schreibt. Die beiden jungen Leute sind verliebt und genießen das Leben.
Einige Jahre später finden sie eine Wohnung, die ihnen gefällt. Sie ziehen zusammen und im Jahr darauf, am 18.8.2018 heiraten sie im Schloss Schwarzenau im Waldviertel. Manuel ist im Waldviertel aufgewachsen und das Paar besucht regelmäßig Manuels Eltern. Beide genießen die Wochenenden am Land, gehen gern spazieren und wandern, aber Corinna schätzt auch die Vorteile der Stadt. Hier ist sie mobil, sie hat einen Job, sie nützt die kulturellen Angebote und freut sich, dass es in ihrer Wohnanlage ein Schwimmbad gibt, das sie selbstständig benützen kann. „Da hab ich mein Lieblingsplatzerl, das merk ich mir. Ich weiß genau, wie ich gehen muss, um zu den Duschen und zum Pool zu kommen. Manchmal sind viele Kinder da, aber die kennen mich auch schon und sagen zu mir, wo ich aufpassen muss. Oder es kommen Leute auf mich zu und fragen, ob sie helfen dürfen. So habe ich schon einige Bekanntschaften im Schwimmbad geschlossen.“
Die kontaktfreudige und kommunikative junge Frau ist seit einigen Jahren in verschiedenen WhatsApp Gruppen und mit blinden und sehbehinderten Leuten aus anderen Teilen Österreichs und aus Deutschland vernetzt. Auf diese Weise lernt sie eine junge Frau aus Graz kennen, die sie gelegentlich besucht. Als an der Grazer Oper das Musical Anatevka mit Audiodeskription (Ad) aufgeführt wird, fährt sie nach Graz. Ebenso als die Oper Die verkaufte Braut mit Ad gezeigt wird. „Meine Freundin hat eine Persönliche Assistentin, die hat uns dann unterstützt, das war sehr schön für mich.“ Ihr Mann Manuel interessiere sich nicht für Opern, deshalb sei sie alleine nach Graz gefahren. Kein Problem für sie, denn sie organisiere sich rechtzeitig eine Einstiegshilfe am Bahnhof und auf der Zugsfahrt sorge sie für ihre Unterhaltung. Als sie sich bei einem Mitreisenden erkundigt, wo der Speisewagen sei, kommen sie miteinander ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben, der ebenfalls blind ist. Die restliche Fahrt verbringen sie im Speisewagen, essen und trinken etwas und unterhalten sich gut. Corinna Pöppel geht in ihrer offenen und humorvollen Art immer wieder auf andere zu und lernt so neue Menschen kennen.
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