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Wenn der Hut in der Krise zu klein wird
Interview mit Julia Moser
Die Unternehmensberatung myAbility engagiert sich für eine barrierefreie Gesellschaft und zeigt auf, wie vorteilhaft es für Unternehmen ist, die Potentiale von Menschen mit Behinderung wahrzunehmen. Es zählt zu Ihren Aufgaben, Frau Mag. Moser, neue Konzepte zu entwickeln und die Qualität der Angebote zu sichern. Sie sind aber auch für PR und Kommunikation zuständig.
Ich bin üblicherweise sehr viel bei Veranstaltungen, Diskussionen und Pressekonferenzen. Bin oft unterwegs und pflege viele Kontakte. Mit dem Lockdown hat sich für mich beruflich extrem viel verändert. Wir sind seit über zwei Monaten im Homeoffice. Diese Umstellung war für uns einfach, da wir sowieso digital arbeiten. Wir haben ein papierloses Büro, jeder hat einen Laptop und jeder kann von überall arbeiten. Wir legen Wert auf flexible Arbeitszeiten und flexible Arbeitsorte, das ist unsere Philosophie. Aber natürlich ist es ein Unterschied, ob ich Homeoffice machen kann oder – so wie jetzt – machen muss.
Aufgrund der Pandemie müssen wir Abstand halten und vielerorts einen Mund-Nasenschutz tragen. Wie wirken sich diese Regelungen auf Menschen aus, die wie Sie vom Usher-Syndrom betroffen sind?
Das ist ein riesiges Problem, denn Menschen, die eine Hörsehbehinderung haben, brauchen sehr viel Nähe, um kommunizieren und sich informieren zu können. Beides ist jetzt massiv erschwert. Man kommt in einen totalen Zwiespalt, man will sich und andere schützen, aber gleichzeitig braucht man Unterstützung. Es ist jetzt auch viel schwieriger, sich zu verständigen und im Raum zu orientieren. In vielen Geschäften gibt es Plexiglaswände, die man aber nicht erkennt, wenn man schlecht sieht. Die Angestellten tragen einen Mund-Nasenschutz, man sieht also kein Mundbild und keine Mimik. Menschen, die eine Hörbehinderung haben, sind aber ganz stark darauf angewiesen. Dazu kommt, dass die Gesichtsmaske die Sprache verändert, sie klingt anders und undeutlicher.
Im Verein mussten wir unsere Gruppentreffen absagen.
Das ist wirklich ein Problem, denn Menschen mit einer fortgeschrittenen Hörsehbehinderung leben oft sehr isoliert.
Und diese Gruppentreffen sind sehr wichtig, um aus den eigenen vier Wänden herauszukommen, sich auszutauschen, man wird verstanden und fühlt sich verstanden. Das alles gibt wieder Kraft für den Alltag.
Ein Alltag, der gerade jetzt mit vielen Veränderungen und Herausforderungen verbunden ist. Sie haben zwei Kinder im Alter von neun und zwölf Jahren. Wie war Ihr Alltagsleben vor der Corona-Krise?
Vor der Pandemie habe ich mit meinen Kindern gefrühstückt, dann sind sie in die Schule gegangen. Sie waren nach dem Unterricht bis vier Uhr in der Nachmittagsbetreuung. Dort bekommen sie ein Mittagessen, später eine Jause, erledigen die Hausaufgaben und spielen mit den anderen. Die Schule war bei uns daheim kein Thema, außer die Kinder haben sich auf einen Test oder eine Schularbeit vorbereitet. Für mich ist es sehr wichtig, meinen Alltag gut zu organisieren, denn ich habe einen Vollzeitjob und bin Alleinerzieherin.
Jetzt sind Sie im Homeoffice, beide Kinder waren zwei Monate ausschließlich daheim und werden auch weiterhin viel zuhause sein, da es ja bis zum Sommer nur einen sehr eingeschränkten Schulbetrieb gibt.
Ich hatte in den ersten zwei, drei Wochen nach dem Lockdown extrem viel zu tun, denn wir mussten im Unternehmen vieles umplanen und neu organisieren. Meine Kinder haben das super gemacht und sind am Vormittag immer bei ihren Schulaufgaben gesessen. Aber irgendwann lässt die Motivation nach. Dann muss man sich dazusetzen, Aufgaben strukturieren und abhaken, Wochenpläne erstellen und im Internet recherchieren, wie man den Inkreismittelpunkt eines Dreiecks konstruiert. Man spürte sehr deutlich, dass das von den Eltern erwartet wird. Ich bin also plötzlich Lehrerin, aber auch Köchin und muss dafür sorgen, dass die Kinder ein Mittagessen haben, eine Jause am Vormittag, eine am Nachmittag, ein Abendessen. Muss einkaufen, viel mehr als sonst, weil wir ja immer zuhause essen. Muss die Wohnung selber saubermachen, denn man sollte ja die Kontakte möglichst reduzieren. Es ist wirklich viel.
Wie kann man sich den Unterricht während der Corona-Krise vorstellen? Wie erhalten die Kinder die Aufgaben?
Meine Tochter, sie ist in der dritten Klasse Volksschule, hat am letzten Schultag vor dem Lockdown einen Packen Arbeitsblätter bekommen. Sie ist neun und hatte am Anfang das Gefühl, Hilfe, das schaffe ich nie. Nach einiger Zeit hat ihre Lehrerin dann aber Woche für Woche kleine, liebevoll gemachte Videos mit klar strukturierten Aufgaben geschickt. Die Lehrkräfte waren mit dieser Art des Unterrichtens natürlich auch enorm gefordert. Mein Sohn ist in der zweiten Klasse Gymnasium, er hat in der ersten Zeit ständig per E-Mail neue Arbeitsaufträge bekommen, später funktionierte das aber sehr gut. Es wird allerdings oft stillschweigend vorausgesetzt, dass es zuhause für jeden einen Laptop gibt und dass ein Drucker zur Verfügung steht. Bei mir kommt noch dazu, dass Unterlagen, die von der Schule geschickt werden, oft nicht barrierefrei sind.
Es wird zwar von Schulkindern mit Behinderung gesprochen, aber nie von Eltern mit Behinderung.
Ich brauche aber einen barrierefreien Zugang, wenn ich meine Kinder unterstützen soll. Ich würde es toll finden, wenn auch an Eltern mit Behinderung gedacht wird.
Wie die Eltern wurden auch die SchülerInnen vom Lockdown überrascht und zunächst mit dem Homeschooling und jetzt mit dem eingeschränkten Unterricht konfrontiert.
Die Kinder mussten plötzlich ganz anders lernen. Es fehlten die Bezugspersonen, die Lehrkräfte. Natürlich vermissen sie auch ihre Freunde. Oft wird gar nicht gesehen und verstanden, dass das für die Kinder belastend ist. Dass auch sie diese veränderte Situation bewältigen müssen. Dafür brauchen sie emotionale Unterstützung, Austausch, Gespräche, gemeinsame Zeit. Das macht man alles, aber es ist schon sehr, sehr viel, all dies neben meinem Vollzeitjob zu tun.
Leider sind die Krisenstäbe sehr homogen zusammengesetzt. Wenn ich Fotos von den Beraterstäben sehe, dann sehe ich vor allem Männer, kaum eine Frau. Und vor allem Männer, die sich nicht tagtäglich um Kinder kümmern. In den Krisenstäben müssen aber unbedingt Menschen sitzen, die ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen haben. Ich beschränke mich hier auf die Themen Elternschaft und Behinderung, es gibt natürlich noch viele andere wichtige Bereiche. Aber nur so können brauchbare, durchdachte und sinnvolle Lösungskonzepte für einen Lockdown erarbeitet werden.
Man gewinnt den Eindruck, als hätte sich niemand überlegt, wie das alles bewältigen werden soll. Wie man, oder besser gesagt, wie frau im Homeoffice arbeiten und gleichzeitig die Kinder betreuen soll. Denn es sind ja wieder vor allem die Frauen, die sich in dieser Ausnahmesituation und Krisenzeit um die Kinder, das Schulische und den Haushalt kümmern.
Wenn der Bundeskanzler sagt, natürlich dürfen Sie Ihr Kind in den Kindergarten oder in die Schulbetreuung schicken, wenn Sie es nicht mehr schaffen sollten, wer ist dann die Erste, die es nicht schaffen will? Du willst ja alles unter einen Hut bringen. Geld verdienen, selbstständig sein, beruflich tun, was du gut kannst. Und selbstverständlich willst du, dass die Kinder gut versorgt sind. Aber wenn wir eine Krise erleben, wenn die Kinderbetreuung wegfällt, werden wir Frauen in die 1950er Jahre zurückgestoßen. Wir brauchen also Inklusion und Diversität.
Wie bringen Sie persönlich all die verschiedenen Aufgaben, die in der Zeit der Pandemie auf Sie zugekommen sind, unter einen Hut?
Mich hat in den letzten zwei Monaten die Persönliche Assistenz gerettet.
Ich habe seit eineinhalb Jahren Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, denn nur so kann ich in meinem Job mein Potential voll einbringen. Aufgrund meiner Hörseheinschränkung brauche ich jemanden, der mich unterstützt, sei es bei der Orientierung oder der Kommunikation. Der mich zu Veranstaltungen begleitet, mir hilft, Leute zu erkennen, damit ich diese wichtigen Kontakte pflegen kann.
Aber in Wien haben Menschen mit Sinnesbehinderung keinen Anspruch auf Persönliche Assistenz im privaten Bereich, nur am Arbeitsplatz.
Erst seit der Corona-Krise darf man die Persönliche Assistenz auch für den privaten Bereich nutzen. Das ist sehr positiv, aber ich fürchte, dass mit dieser Ausnahmeregelung des Sozialministeriumservice (SMS) bald Schluss ist.
Wie hat die Persönliche Assistenz Sie konkret unterstützt?
Also meine Assistentin kommt mindestens zwei Mal in der Woche. Sie hilft mir bei den Einkäufen, begleitet mich zu einem Arzttermin und unterstützt mich bei den Kindern, sowohl was die Schule als auch die Freizeitgestaltung betrifft. Diese Regelung müsste unbedingt weiter gelten. Denn wir sind nach wie vor im Homeoffice. Der Schulbetrieb ist sehr eingeschränkt. Es wird einem auch deutlich signalisiert, dass man die Kinder nicht in die Schul- und Nachmittagsbetreuung geben sollte, denn es fehle an Personal und Platz. Dann kommen bald die großen Ferien. Viele Sommerangebote, die ich sonst nutze, gibt es heuer nicht. Die Großeltern sollten geschützt werden.
Also die Persönliche Assistenz im Privatbereich muss bleiben. Das war jetzt möglich. Das muss auch nach Corona möglich sein.
Es ist wichtig, dass diese positiven Entwicklungen wie Persönliche Assistenz im privaten Bereich, Homeoffice, Pressekonferenzen in Gebärdensprache oder Informationen in leichter Sprache über die Pandemie hinaus erhalten bleiben. Dass also Inklusion, Barrierefreiheit und Diversität wichtige Themen bleiben und umgesetzt werden.
Vielen Dank für diesen Einblick in Ihren vielfältigen Berufs- und Familienalltag.
Link zur Website des Selbsthilfevereins Forum Usher-Syndrom
Das Interview führte Mag. Ursula Müller
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