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Wenn Hoffnungen zerstört werden
Interview mit Driss Mareoudi
Der 16. März stellt für viele Menschen, die in Österreich leben, eine Zäsur dar. Wie, Herr Mareoudi, haben Sie diesen Tag erlebt?
Ich bin an diesem Montag wie immer in die Innenstadt zu meinem Arbeitsplatz gefahren, zu Care Tec. Das ist ein kleineres Wiener Unternehmen, es entwickelt elektronische Geräte für Menschen, die blind oder sehbehindert sind. Aber außer mir war niemand da. Ich habe dann erfahren, dass wir nicht mehr arbeiten dürfen und bin wieder nachhause gegangen. Nach zwei Tagen wurde mir mitgeteilt, dass ich gekündigt wurde. Kurz danach habe ich die Kündigung noch schriftlich per E-Mail bekommen.
Die Kündigung muss ein großer Schock für Sie gewesen sein? Wie geht es jetzt weiter?
Ja, es ist wirklich schwer, die Arbeit zu verlieren. Und das nach drei Monaten! Ich bin von Geburt an blind. Ich habe diesen Job bei Care Tec mit Hilfe der Beruflichen Assistenz des Blinden- und Sehbehindertenverbands gefunden. Und die Frau Neuberger unterstützt mich auch jetzt, das ist sehr nett von ihr. Sie macht die Beratung per Telefon und erledigt für mich die administrativen Dinge. Das heißt, sie schickt meine Unterlagen an das AMS und das Sozialamt. Sie beantragt für mich die Mindestsicherung. Denn ich bekomme kein Arbeitslosengeld, weil ich erst im Jänner bei Care Tec angestellt wurde.
Welche Tätigkeiten haben Sie bei Care Tec gemacht, das hochwertige elektronische Geräte für Menschen, die sehbehindert sind, entwickelt und vertreibt? Wie hat Ihr Arbeitsalltag vor dem 16. März ausgesehen?
Care Tec bietet seinen Kunden High-Tech Produkte an, für den Alltag, den Beruf, die Weiterbildung und die Freizeit. Also zum Beispiel Farb- und Gelderkennungsgeräte, sprechende Waagen und Uhren oder Braillezeilen. Ich habe dort Vollzeit gearbeitet und die Bestellungen entgegengenommen, die per Telefon und per E-Mail eingehen. Dann habe ich auch verschiedene Prototypen getestet, die ja für blinde Menschen entwickelt werden. Außerdem habe ich noch kleinere Übersetzungstätigkeiten gemacht, denn ich spreche außer Deutsch noch Arabisch, Französisch und Englisch.
Sie kommen aus Marokko und sind in Casablanca in einer großen Familie in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. 2015 sind Sie nach Österreich geflüchtet und haben zwei Jahre später einen positiven Asylbescheid erhalten. Was hat Sie veranlasst, Ihre Familie und Ihre Heimat zu verlassen?
In meinem Heimatland haben es blinde Menschen sehr, sehr schwer. Sie haben praktisch keine Rechte. Man hat keine Chance, eine Arbeit zu finden, es gibt aber auch keine soziale Absicherung.
Es ist nicht möglich, ein selbstständiges Leben zu führen. Man ist immer auf die Familie angewiesen, aber die Eltern und Geschwister können nicht immer für einen sorgen.
Es ist auch schwierig, eine Ausbildung zu machen. Die meisten Leute in Marokko finden, dass blinde Menschen zuhause bleiben sollen. Es ist zum Beispiel nicht möglich, dass ich allein ein Bankkonto eröffne. Ich bräuchte dafür zwei Zeugen, die mich dann auch bei jedem Gang zur Bank begleiten müssten. Und wer sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt, wer gegen die Diskriminierung auf die Straße geht, muss damit rechnen, von der Polizei geprügelt zu werden.
Wie ist es Ihnen dennoch möglich gewesen, eine Schule zu besuchen und sogar als einziger von Ihrer Familie zu studieren?
Einer meiner Brüder hat mir geholfen, eine Schule für blinde Kinder zu finden. Aber dort gibt es praktisch keine Hilfsmittel. Wir hatten nur eine Blindenschrifttafel. Mit dieser Punktschrifttafel habe ich mit der Hand schreiben gelernt. Es ist sehr mühsam und aufwendig, so zu schreiben. Vor allem, wenn man einen längeren Text verfasst, aber wir hatten sonst gar keine Hilfsmittel. Trotzdem habe ich es geschafft, habe die Matura gemacht und danach englische Literatur studiert. Auf der Universität war es noch schwieriger als in der Schule, denn die Professoren wussten überhaupt nicht, wie sie mit einem blinden Studenten umgehen sollten. Obwohl es viele Probleme gab, habe ich nach drei Jahren meinen Bachelor gemacht. Aber wie gesagt, man findet in Marokko keine Arbeit, wenn man blind ist. Weil ich keine Chancen für mich gesehen habe, bin ich nach Österreich geflüchtet.
Sie waren damals 25 Jahre alt und haben sich allein auf den Weg gemacht. Wie ist es einem Menschen, der blind ist, möglich, allein als Flüchtling unterwegs zu sein?
Zuerst bin ich in die Türkei geflogen. Dort habe ich versucht, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, die ebenfalls auf der Flucht sind. Es war alles sehr, sehr schwierig. Zuerst wollte mir niemand helfen, aber ich habe mich als Dolmetscher angetragen. Ich habe also für andere Flüchtlinge übersetzt, dafür wurde mir geholfen. Wir sind mit dem Boot nach Griechenland und über den Balkan nach Österreich. Das war alles sehr schwierig. Trotzdem habe ich es geschafft. Auch die ersten zwei Jahre in Österreich waren sehr schwer. Erst als ich ein anerkannter Flüchtling war, wurde es leichter. Das war im Jahr 2017, ab da wurde ich von der Beruflichen Assistenz des Blindenverbands unterstützt, habe Weiterbildungen gemacht und eine Wohnung gefunden. Im Herbst 2019 konnte ich ein Arbeitstraining bei der Firma Care Tec machen und ab Jänner dort als kaufmännischer Angestellter arbeiten.
Aber jetzt ist alles anders. Ich habe meinen Job verloren und weiß nicht, wie es weitergehen wird. Hinzu kommt, dass sich alle davor fürchten, sich mit dem Corona Virus anzustecken und möglichst viel Abstand halten. Man fühlt sich sehr allein.
Was sind für Sie derzeit die größten Hürden, die Sie im Alltag überwinden müssen?
Wenn man blind ist, braucht man immer wieder Unterstützung, sei es beim Einkaufen oder unterwegs. Ich kenne mich in Wien gut aus, ich benutze alle öffentlichen Verkehrsmittel. Aber in den großen Stationen muss ich doch immer wieder fragen oder mich führen lassen. Doch jetzt wollen sich die Leute nicht mehr angreifen lassen. Auch ich habe Angst, angesteckt zu werden. Nichts ist mehr wie vorher, es ist alles anders geworden. Jeder Mensch hat Angst vor dem anderen, das macht das Leben sehr schwer.
Im Supermarkt ist die Situation ähnlich. Ich wohne allein und einkaufen ist ein Problem für mich. Die Angestellten sind überlastet, sie können mir nicht helfen. Ich versuche, mit dem nötigen Abstand, einen Kunden anzusprechen und zu bitten, mir etwas zu besorgen. Dann warte ich beim Eingang oder bei der Kassa. Das alles macht ein bisschen müde, psychisch meine ich. Jetzt merke ich wirklich, dass ich blind bin. Allein auf der Flucht, die ersten zwei Jahre in Österreich, das war alles sehr schwierig. Aber trotzdem habe ich es geschafft. Die momentane Situation ist für mich allerdings noch schwieriger.
Wie gelingt es Ihnen, jeden Tag neu zu bestehen und nicht den Mut zu verlieren?
Ich beschäftige mich mit den Dingen, die ich sehr gern mag. Ich lese viel. Ich höre oft Musik. Ich mag Hip-Hop, Country, Rock, Pop, indische und arabische Musik oder Flamenco. Ich mache auch gern Musik. Zuhause in Marokko hatte ich eine Hip-Hop Band, als Teenager war ich Rapper. Ich habe auch Freunde hier in Wien, aber sie können mich nicht besuchen und ich kann sie nicht besuchen. Wir können nur telefonieren.
Sie haben vor fünf Jahren alles riskiert, als Sie sich allein auf den Weg nach Österreich gemacht haben. Sie haben alles auf eine Karte gesetzt, um sich den Traum eines selbstbestimmten Lebens zu erfüllen. Es ist Ihnen gelungen, eine neue Sprache zu erlernen, eine Wohnung und einen Job zu finden, selbstständig zu leben. Doch die Corona Pandemie hat alles verändert.
Ich hoffe, dass diese Krise bald vorbei ist. Aber wir wissen noch nicht, wie es dann mit der Wirtschaft weitergeht. Wenn es mit der Wirtschaft schlechter wird, dann wird es auch viel schwerer sein, eine Arbeit zu finden. Für alle, aber ganz besonders für Menschen mit Behinderungen. Also, wenn ich nicht arbeite, was ist dann?
Und für die Zeit nach der Pandemie hoffe ich, dass wir noch viel besser verstehen, wie wichtig dieser zwischenmenschliche Kontakt für uns ist, und zwar für jeden von uns.
Ich hoffe, dass wir noch besser begreifen, dass wir alle Menschen sind, ohne Unterschied. Keiner ist besser als der andere. Und dass dieser zwischenmenschliche Kontakt noch besser wird. Und natürlich hoffe ich, dass ich wieder eine Arbeit finden werde und dass man das Leben wieder genießen kann.
Vielen Dank für diese Einblicke in Ihre momentane Lebenssituation.
Das Interview führte Mag. Ursula Müller
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