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Wenn plötzlich viel mehr Energie da ist
Interview mit Angela Engel
Wir erleben aufgrund der Pandemie eine ungewohnte Situation. Es gibt viele neue Regeln und Verhaltensweisen. Sich auf etwas Neues einzustellen, ist anstrengend, fordert uns heraus. Dennoch sagen Sie, dass Sie jetzt viel mehr Energie haben als vor dem 16. März. Woran liegt das?
Ich war noch nie so tiefenentspannt und habe mich selbst gefragt, warum ich jetzt viel mehr Energie habe als früher. Denn ich arbeite im Homeoffice gleich viel wie vorher in der Firma. Natürlich weiß ich, dass ich mich auf dem Weg zur Arbeit voll konzentrieren muss.
Ich bin von Geburt an blind und muss unterwegs immer high alert sein, also immer auf der Hut sein.
Von der Seestadt, wo ich wohne, brauche ich eine Stunde zur Arbeit und ich muss mehrmals umsteigen. Wenn ich am Abend heimkomme, spüre ich, wie anstrengend und ermüdend diese Wegzeiten sind. Das weiß ich schon lange. Aber erst, wo ich nicht mehr täglich zwei Stunden unterwegs bin, sondern von zuhause aus arbeite, merke ich, wie energieraubend diese Wege für mich sind. Nicht die Arbeit ist anstrengend, sondern die Fahrerei.
Wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
Ich habe im Alltag viel mehr Zeit, ich bezeichne es als eine geschenkte Zeit. Das erlebe ich als sehr positiv. Ich ernähre mich so gesund wie schon lange nicht mehr. Denn wenn ich in der Firma bin, muss ich schauen, wie ich zu Mittag schnell etwas zu essen bekomme. Nach einem langen Arbeitstag bin ich am Abend meistens zu müde zum Kochen. Ich habe jetzt auch viel mehr Zeit, mich mit meinen Pflanzen zu beschäftigen. Auf der Dachterrasse unseres Hauses bewirtschafte ich zwei Hochbeete, wo ich Gemüse und Kräuter anbaue. Auch auf meinem Balkon habe ich einige Kisterl mit Nutzpflanzen. Gedanklich beschäftige ich mich bereits damit, wie ich meinen eigenen Kompost herstellen kann. Ich möchte mir eine Wurmkiste anschaffen, die wohnungstauglich ist und so könnte ich zuhause meine eigene Kreislaufwirtschaft betreiben. Ich mache jetzt viele Dinge, die mir Spaß machen und die es mir ermöglichen, noch nachhaltiger zu leben. Denn das ist mir wichtig.
Bringt die gegenwärtige Ausnahmesituation Dinge mit sich, die für Sie schwierig sind?
Eine wichtige Frage für mich war, wie ich die Lebensmittel ins Haus bekomme. Ich wohne allein und ich vermeide es zurzeit, hinauszugehen.
Eine liebe Nachbarin, die nebenan wohnt, kauft für mich ein, wenn sie selbst in den Supermarkt geht.
Sie stellt mir die Sachen vor die Tür, ich überweise ihr den Betrag und so geht das sehr gut.
Natürlich gehen mir die persönlichen Begegnungen ab. Andererseits erlebe ich, dass ich über FaceTime sehr intensive Kontakte pflege. Das ist mehr als nur telefonieren. Durch die gute Tonqualität hat man fast das Gefühl, im selben Raum zu sitzen. Und so kann ich mit meinem Freund, der in Graz lebt, auch ein bissl abhängen. Man plaudert, man kocht nebenbei, man verbringt miteinander Zeit. Wir führen seit vielen Jahren eine Fernbeziehung und sind bereits erprobt darin. Aber natürlich freue ich mich, wenn wir uns wiedersehen.
Sie sind seit dem Jahr 2008 bei der Hilfsmittelfirma Videbis. Sie führen Schulungen am Computer und technische Beratungen durch. Außerdem geben Sie noch technischen Support, unterstützen also die KundInnen, wenn es Probleme gibt. Arbeiten Sie im Homeoffice anders als in der Firma?
Ich mache sehr viele Schulungen. Das tu‘ ich wahnsinnig gern, weil ich persönlich technische Hilfsmittel unglaublich hilfreich finde und weil es mir selbst Spaß macht, sie zu benutzen. Diese Freude möchte ich an unsere KundInnen weitergeben. Mir ist es wichtig, ihnen die Angst und Unsicherheit zu nehmen, die sie oft empfinden, wenn es darum geht, ein neues technisches Hilfsmittel auszuprobieren. Viele rufen Hilfe, wenn es um Technik geht, sagen, ich kenne mich nicht aus. Mir geht es bei meiner Arbeit vor allem darum, genau zu verstehen, was die jeweilige Person braucht und dann gemeinsam die erforderlichen Lernschritte zu machen. Ich möchte vermitteln, dass es gar nicht so schwer ist, diese Hürde zu nehmen, sich neues Wissen anzueignen und ein wertvolles Hilfsmittel zu gewinnen. Das gelingt mir meistens sehr gut. Also ich kann per Internet genauso schulen und technischen Support geben.
Sie haben nach der Matura Soziologie an der Universität Linz studiert, eine Ausbildung, die nicht unbedingt geradewegs zu einem technischen Beruf führt.
Während des Studiums habe ich mich immer wieder mit dem Verhältnis Mensch und Technik beschäftigt. Wie nützt die Technik uns, welche Schattenseiten hat sie, und vor allem, wie unterstützt die Technik Menschen, die blind sind oder sehr wenig sehen. Technik hat mich immer schon begeistert und Hilfsmittel spielen in meinem Leben eine wesentliche Rolle. Ich erinnere mich noch gut, wie ich in der Zeit, wo ich maturiert habe, von einem blinden Mitarbeiter einer Hilfsmittelfirma eingeschult wurde.
Das hat mich tief beeindruckt, ich habe mir damals gedacht, ich möchte auch einmal andere blinde Menschen einschulen.
Es hat allerdings noch etliche Jahre gedauert, bis Sie tatsächlich bei Videbis zu arbeiten begonnen haben.
Ja, das war damals mehr so eine Idee, kein konkreter Berufsplan. Nach der Matura habe ich ein Schuljahr an einer amerikanischen Blindenschule verbracht, an der Overbrook School for the Blind in Philadelphia, die ein internationales Programm anbietet. Das war 1997/98. Wir haben dort gewohnt, der Campus war echt cool, ein großes Areal, wo sich Schulgebäude, Wohnheime, aber auch Werkstätten befinden. Und alles war autofrei. In Overbrook habe ich grundlegende Computerkenntnisse erworben. Wir hatten eine junge, engagierte Informatiklehrerin, die uns auf großartige Weise vermittelt hat, wie Windows und JAWS für Menschen, die blind sind, funktionieren. Es hat dort nicht immer alles wie am Schnürchen geklappt, aber rückblickend kann ich sagen, dass mir dieses Jahr unglaublich viel gebracht hat. Später habe ich bei den internationalen Computercamps im Organisationsteam mitgearbeitet und Workshops geleitet. Mir macht mein Job bei Videbis, diese Arbeit mit Menschen und Technik große Freude. Es ist schön, gemeinsam mit den Leuten herauszufinden, was sie brauchen, was ihnen am meisten nützt, wie sie diese Technologien verwenden können und wie diese das Leben, sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit, erleichtern.
Welche Hilfsmittel benutzen Sie?
Zuhause habe ich einen Laptop und eine Braillezeile. Außerdem verwende ich einen Milestone, damit kann man Sprachaufnahmen machen, aber auch Medien abspielen und vieles mehr.
Und schließlich noch mein iPhone, das sich zu einem vielfältigen Alltagshilfsmittel für blinde Menschen entwickelt hat.
Es ist fast wie ein kleiner Computer und wenn ich bestimmte Apps verwende, beginnt es für mich zu sehen. Also ich kann mir zum Beispiel mit meinem iPhone eine Beschriftung vorlesen lassen. Das ist revolutionär. Zuhause arbeite ich am liebsten am Computer.
Wie schaut Ihr Homeoffice aus?
Ich habe mir in meiner Wohnung einen schönen Arbeitsplatz eingerichtet. Es gibt ein Zimmer, das als Gästezimmer dient, wo ich Yoga mache und wo ein großer Schreibtisch steht. Dort arbeite ich. In unserer Firma gibt es schon lange die Möglichkeit, Homeoffice zu machen, sich am Server in der Firma anzumelden und auf die Datenbank zuzugreifen. Wir sind auch im Homeoffice unter der Firmennummer erreichbar und können Telefonate entgegennehmen. Es freut mich, dass viele KundInnen Fernschulungen und Fernwartungen gut annehmen. So ersparen wir uns mühsame Wege und Zeit. Ich glaube, dass es gerade für blinde Leute sehr wichtig ist, diese Potentiale zu nützen.
Womit wir wieder bei der geschenkten Zeit und der gewonnenen Energie sind.
Ja, ich sehe diese Krise auch als eine große Chance, die man nützen kann, um etwas daraus zu machen, für sich, für die Arbeit und die Welt. Zumindest all jene, die jetzt nicht in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation sind. Ich habe mehr Zeit für mich, für die Innenschau. Mehr Zeit, Yoga zu üben und zu meditieren.
Ich lerne so viel Neues dazu, sei es beim Kochen, beim Garteln oder bei der Arbeit.
Diese Krise kann zu einem Neustart führen. Sie kann uns motivieren, Fragen zu stellen: Was will ich? Was habe ich für Möglichkeiten? Wie kann ich mir mein Leben – über die Krise hinaus – so gestalten, dass es mich mehr erfüllt als davor? Ich jedenfalls hoffe, dass viele diese Chance nützen.
Vielen Dank für diese Einblicke in Ihre momentane Lebensgestaltung.
Nähere Informationen zur Hilfsmittelfirma Videbis
Informationen zum internationalen Programm der amerikanischen Schule Overbrook for the Blind
Das Interview führte Mag. Ursula Müller
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