Portraits
„Wir haben einiges gemeinsam, Louis Braille und ich.“
Eine Fingerkuppe Freiheit
Vor einigen Jahren, im Sommer 2021, beschäftigt sich Thomas Zwerina intensiv mit der Biografie von Louis Braille. Er ist tief beeindruckt, wie wiss- und lernbegierig dieser Bub aus einfachen Verhältnissen war, dass er bereits im Alter von zwölf Jahren begann, eine Schrift für blinde Menschen zu entwickeln und vier Jahre später sein Experiment erfolgreich abgeschlossen hatte.
„Es ist eine einfache und zugleich geniale Erfindung, die es inzwischen Millionen blinden Menschen ermöglicht hat, lesen und schreiben zu lernen.“
Beeindruckt ist Thomas Zwerina auch, als er liest, dass der Franzose zusammen mit seinem ebenfalls blinden Freund Francois-Pierre Foucault, einem Mechaniker, den sogenannten „Raphigraphen“ entwickelt hatte, einen Vorläufer der mechanischen Schreibmaschine. „Ganz besonders aber hat mich beeindruckt, dass er trotz der starken Widerstände an seiner Idee festgehalten hat, dass er sich nicht abhalten ließ, seine Ideen und Vorhaben zu verwirklichen.“
Dies lässt sich auch von Thomas Zwerina sagen, der im Alter von dreizehn Jahren erblindet. Die Schulbehörde fühlt sich für den Schüler nicht mehr zuständig und teilt ihm mit, dass er ab jetzt nicht mehr in seine Schule gehen könne. Die Mutter muss für den Lebensunterhalt sorgen, der Vater ist früh verstorben. Der Dreizehnjährige bleibt sich und seinem Schicksal weitgehend selbst überlassen.
Die Familie seiner Mutter kommt aus Südmähren, aus der Umgebung von Slavonice, ganz nah an der österreichischen Grenze. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet die Mutter bei der Post in Wien. Gegen Ende des Krieges verlässt sie, aus Angst vor den Russen, mit ihrer kleinen Tochter und ihren Eltern fluchtartig die Stadt. Die Familie will nach Gmünd in Niederösterreich, landet aber aus einem Zufall in der Umgebung von Schwäbisch Gmünd in Deutschland, wo sie sich ansiedelt. Zwei Brüder werden geboren. Thomas ist ein Nachzügler, er kommt erst 1965 zur Welt. Bei der Einschulung wird festgestellt, dass der Bub auf einem Auge blind ist. „Aber“, so der Autor und Musiker, „als Kind bin ich ganz gut zurecht gekommen.“ Als er aber im Alter von dreizehn Jahren am anderen Auge eine Netzhautablösung hat, ändert sich sein Leben dramatisch.
„Damals habe ich alles verloren, habe alle Freunde und Schulkameraden verloren. Meine Mutter ist arbeiten gegangen. Ich war allein zuhause und auch allein gelassen mit meiner Erblindung.“
Eineinhalb Jahre verbringt der Halbwüchsige zuhause. Im Radio hört er zufällig von einer Schule für sehbehinderte Kinder. Das war Ende der 1970er Jahre. Er wird aktiv, findet bei der Auskunft die Nummer heraus, ruft heimlich in der Ernst-Abbe-Schule in Stuttgart an und lässt seine Mutter wissen, dass er dorthin will. „Ich habe zu ihr gesagt, ich will wieder in die Schule gehen.“ Thomas‘ Wunsch erfüllt sich, aber der Weg ist weit und anstrengend, an Schultagen ist er vier bis fünf Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, um zur Schule und wieder nachhause zu kommen. Er ist neugierig und wissbegierig. „Mich hat alles interessiert. Ich wollte unbedingt Englisch lernen. Ich hatte immer den Traum, Musiker oder Dolmetscher zu werden.“ Thomas kommt aus einer Arbeiterfamilie. Seine Mutter arbeitet bei Märklin, wo Modelleisenbahnen hergestellt werden. Das Geld ist knapp, aber dennoch ermöglicht sie ihrem Sohn, dass er ein Instrument erlernt, dass er Orgelunterricht bekommt. Auf der Hammondorgel spielt er Folk, ein bisschen Klassik, Pop und auch Volksmusik. Und er lernt Jazzgitarre. Doch nach der Netzhautablösung kann er keine Noten mehr lesen und der Unterricht endet.
Als sich Thomas Zwerina in jenem Sommer 2021 in die Bücher über Louis Braille vertieft, stellt er fest, dass sie sehr nüchtern und sachlich verfasst seien. „Man erfährt, dass Louis Braille dieses und jenes gemacht hat. Man erfährt Fakten, aber keine Emotionen. Diese Leerstellen, dieses Dazwischen hat mich interessiert.“ Der Autor möchte, dass das Leben von Louis Braille in all seiner Tragik und Komik, in seiner Farbigkeit und Vielschichtigkeit für die Leser:innen spürbar und begreifbar wird. Er informiert sich also nicht nur intensiv über das Leben von Louis Braille. Er liest Romane von Zeitgenossen des Erfinders der Punktschrift, um sich ein möglichst gutes Bild von der Lebenssituation seiner Protagonisten zu machen. „Wenn man einen historischen Roman schreibt, fragt man sich auch ständig, ob es dieses oder jenes schon gegeben hat?“ Durch Recherchen und die Literatur jener Zeit bekommt der Autor ein Gespür für die Lebensrealitäten von Menschen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelebt haben.
Die biografischen Daten und Stationen von Louis Braille bilden für Thomas Zwerina das Gerüst des Romans. Davon ausgehend entwickelt der Autor seine Geschichte.
„Alle Szenen in meinem Buch habe ich mir im weitesten Sinne ausgedacht. Denn es bleibt nun einmal Spekulation, wie es damals gewesen sein mochte.“
Wie gelingt dies, wie vollzieht sich dieser Prozess? „Bevor ich anfange, ein Kapitel zu verfassen, eine Szene zu beschreiben, mache ich mir nicht nur ein genaues Bild vom Setting und von der Atmosphäre, sondern bin auch gefühlsmäßig stark beteiligt. Ich versuche, mich in die Situation hineinzuversetzen und nachzuempfinden, wie es den handelnden Personen ergangen sein mag.“ So wird das Schreiben für den Autor auch zu einer großen persönlichen Herausforderung. Er fühlt sich in die Zeit und Gefühlswelt zurückgeworfen, als er selbst erblindet ist, als er selbst dieses Trauma erlebt hat. Und er erinnert sich an die vielen schmerzhaften Widerstände, die er im Laufe seines Lebens erfahren hat.
Widerstände, die er während seines Referendariats, dem Vorbereitungsdienst für das Lehramt, erlebt hat, und zwar von Seiten der Schulleitung. „Ich habe mir viele schlimme Dinge anhören müssen, das war schon sehr erschreckend. Aber ich dachte, ich mache mein Ding.“ Thomas Zwerina begegnet aber auch immer wieder Menschen, die seine Fähigkeiten und seine Intelligenz wahrnehmen und ihn unterstützen. So wie damals als er im Alter von 17 Jahren die Schule für sehbehinderte Schüler:innen verlassen muss, weil es für ihn dort keine weiteren Bildungsmöglichkeiten gibt. Zwei seiner Lehrer:innen kommen aus Stuttgart zu ihm nachhause und schlagen ihm vor, nach Marburg zu gehen, um dort sein Abitur, also seine Matura zu machen. Dort absolviert der hochmotivierte junge Mann zunächst einen Vorbereitungslehrgang, erlernt die Brailleschrift und das Maschinschreiben, macht ein Mobilitätstraining, lernt kochen und was man sonst noch alles für ein selbstständiges Leben benötigt. Nach diesem Jahr schafft er die Aufnahmsprüfung an der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg, wo er zwei Jahre später maturiert. „Ich hatte immer diese Sehnsucht nach der Welt. Diesen Wunsch zu lernen und zu wissen.“
Für den Maturanten ist klar, dass er studieren will, und zwar Anglistik und Germanistik. Um sich aufs Englischstudium vorzubereiten, fasst er den Plan, für ein Jahr nach England zu gehen. Denn er nimmt sich den Rat seiner Lehrer:innen zu Herzen.
„Uns haben sie in der Schule immer gesagt, Leute, wenn ihr aus der Schule hinausgeht, müsst ihr besser sein als die Sehenden, sonst habt ihr keine Chance.“
Der angehende Student organisiert sich selbstständig eine Stelle als Assistenzlehrer am Royal National Institut for the Blind (RNIB), an der alteingesessenen und bekannten englischen Blindenschule. Seine Familie ist entsetzt und sehr besorgt, dass er ganz alleine in ein fremdes Land gehen will, aber für Thomas zahlt sich dieser Schritt aus. Sein Englisch verbessert sich enorm. Das ist ein großer Vorteil, da den Studierenden sehr viel abverlangt wird und Thomas ganz besonders. Mit seiner Stenomaschine schreibt er in den Vorlesungen mit und überträgt zuhause die Mitschriften in die Brailleschrift. Das ist sehr arbeitsaufwändig. Die Studierenden müssen extrem viel lesen, oft ein paar Hundert Seiten pro Woche. Die geforderte Literatur gibt es jedoch oft gar nicht als Hörbuch. „Aber wir waren so eine Clique von Studierenden, so vier, fünf Leute und wir haben oft zusammen gelernt. Wir haben uns gegenseitig geholfen. Die anderen haben mir die Texte zum Teil vorgelesen, sie haben gesagt, Thomas, wir müssen die Texte sowieso lesen, wir arbeiten zusammen. Und ich konnte den anderen wieder bestimmte Sachen erklären. Das war so ein Miteinander.“
Später im Studium erweisen sich eine Amerikanerin und deren Freundin als große Hilfe, die beiden Frauen lesen viele literarische Texte vor, nehmen sie auch auf Kassette auf und sind verlässliche Unterstützerinnen. „Wenn die beiden dies nicht gemacht hätten, wäre es nicht gegangen, dann hätte ich die Pflichtlektüre niemals bewältigen können.“ Thomas Zwerina hat an der Uni auch verständnisvolle Lehrkräfte, vor allem im Fach Anglistik. Und er engagiert sich in der studentischen Arbeit. „Wir haben bereits damals einige Veränderungen erreicht. So wurden zum Beispiel auf der Universitätsbibliothek Hilfskräfte angestellt, die blinden und sehbehinderten Studierenden vorgelesen haben. Die konnten wir buchen.“
Im November 1993, nach nur neun Semestern, schließt Thomas Zwerina sein Studium ab und wird nach seinem Referendariat Lehrer an einem Gymnasium. Er unterrichtet anders als die meisten seiner Kolleg:innen, er verfolgt einen kooperativen Unterrichtsstil, seine Schüler:innen arbeiten sehr selbstständig. Beim Korrigieren der schriftlichen Arbeiten stehen ihm Assistenzkräfte zur Seite, meistens Studierende, doch sie wechseln sehr oft. „Ja, ich war erfolgreich, aber es hatte einen hohen Preis. Es war extrem arbeitsaufwändig.“
Solange Thomas Zwerina studiert und später unterrichtet, bleibt ihm nicht sehr viel Zeit für seine große Leidenschaft, für die Musik. Als sich seine berufliche Tätigkeit verändert, knüpft er wieder an seine alte Passion an. „Ich habe mir gesagt, jetzt will ich es noch einmal wissen. Ich habe mir einen Flügel gekauft, habe gespielt, komponiert und Lieder geschrieben. Ich wollte mehr vom Jazz wissen. Ich hatte Glück, ich habe einen sehr begabten Studenten gefunden, der bereit war, mich in Improvisations- und Harmonielehre zu unterrichten und mir Jazzstandards beizubringen.“
Thomas Zwerina erfüllt sich einen Traum und wird Musiker. Nach einigen Jahren will er nicht mehr allein Musik machen. Er sucht eine Sängerin, tut dies im Internet kund und Evi Lerch meldet sich, als einzige. Ihre Stimme gefällt ihm, sie sind sich sympathisch, treffen sich immer wieder zum Musizieren, entwickeln gemeinsame Programme und werden auch privat ein Paar. „Das ist natürlich das Schönste, das einem widerfahren kann. Uns hat das unheimlich gepusht. Unser Haus ist voller Musik.“ Auf eine etwas andere Art hat sich auch der Wunsch, Dolmetscher zu werden, erfüllt. Mit seinem Roman über Louis Braille übersetzt Thomas Zwerina die Lebenswelten blinder Personen für sehende Menschen.
Eine Fingerkuppe Freiheit von Thomas Zwerina ist im Verlag HarperCollins erschienen. Es ist außerdem als E-Book sowie als Hörbuch erhältlich.
Die Website https://www.the-cellular-fools.de/ informiert über alle künstlerischen Aktivitäten.
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