Netzhautdystrophien
Kapitel 6: Netzhautdystrophien
Unter Dystrophie versteht man in der Medizin Fehlbildungen von gesundem Gewebe. Diese entstehen unter anderem aufgrund von genetischen Defekten, welche von Eltern an ihre Kinder weiter vererbt werden können. Dabei gibt es erbliche Erkrankungen, die bei fast jedem Träger eines Gendefektes in der Familie auftreten, was man als dominanten Erbgang bezeichnet. Andererseits gibt es auch genetische Veränderungen, die nur zu einer Erkrankung führen, wenn beide scheinbar gesunde Elternteile diesen Gendefekt an einen Nachkommen weitergeben. Dies bezeichnet man als rezessiven Erbgang. Typischerweise sind dabei nur sehr wenige Familienmitglieder derselben Generation betroffen.
Eine Reihe von Netzhauterkrankungen mit sehr unterschiedlichem Verlauf und Aussehen ist durch genetische Veränderungen, so genannte Mutationen, bedingt. Derzeit kennt man etwa 100 dieser Erkrankungen und fasst sie unter dem Begriff „hereditäre Netzhautdystrophien“, oder auf Deutsch „erbliche Netzhautfehlbildungen“, zusammen. Manche davon sind extrem selten, insgesamt ist aber etwa einer von 4.000 Menschen durch eines dieser Krankheitsbilder betroffen und sie sind in Europa für ca. 10 % aller Erblindungsfälle verantwortlich. Inzwischen kennt man als Ursache für diese Erkrankungen mehrere hundert Mutationen an ungefähr 180 verschiedenen Genen. (..)
Gemeinsam haben diese Erkrankungen, dass sie im Krankheitsverlauf die gesamte Netzhaut betreffen und sich das Sehen im Laufe des Lebens über Jahre oder Jahrzehnte langsam fortschreitend verschlechtert. Sie können, wie die Retinopathia Pigmentosa, entweder in der Netzhautperipherie oder, wie die Zapfendystrophien, in der Netzhautmitte beginnen. Meistens machen sich die Netzhautdystrophien bis zum 20. Lebensjahr erstmals bemerkbar, aber auch spätere Manifestationen können auftreten. Die genetisch bedingte Störung von Sinneszellen oder Pigmentzellen in der Netzhaut führt bei diesen Erkrankungen zu einer fortschreitenden Zerstörung dieser Zellen. Dadurch entstehen mit der Zeit große Flächen an funktionsloser Netzhaut. Häufige Befunde am Augenhintergrund bei generalisierten Netzhautatrophien sind in der Pigmentepithelschicht der Netzhaut zu finden. Am häufigsten entstehen Verklumpungen im Pigmentepithel und Atrophiezonen, das sind verkümmerte Stellen an der Netzhaut. Bei einigen generalisierten Netzhautdystrophien, wie zum Beispiel bei der Retinopathia Pigmentosa, können Schwellungen (Ödembildung) in der Makula (Netzhautmitte) auftreten und die Sehleistung zusätzlich belasten.
Die Netzhautdystrophien schreiten je nach ursächlichem Gendefekt unterschiedlich schnell, in jedem Fall aber unaufhaltsam chronisch fort. Schwere Fälle, wovon nur ein kleiner Teil der Patienten betroffen ist, können bis zu einer kompletten Erblindung führen. Generell kann für den Einzelfall aufgrund der hohen Variabilität dieser Erkrankungen selbst innerhalb einer Familie keine genaue Vorhersage bezüglich des Verlaufs oder des zu erwartenden Schweregrads der Beeinträchtigung getroffen werden. Sogar Fälle mit bekannter Genmutation können einen unterschiedlichen individuellen Verlauf zeigen. Daher ist bei diesen Fällen eine Vorhersage über die Prognose auch bei bekannter Genmutation nicht immer möglich. (..)
Aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen, des verschiedenartigen Aussehens und variablen Beschwerdebilds ist das Erkennen einer erblich bedingten Netzhautdystrophie nicht immer einfach. Oft haben die Patienten viele Untersuchungen hinter sich, bevor eine endgültige Diagnose feststeht. In den letzten Jahren haben sich aber die technischen Möglichkeiten zur Untersuchung sowohl der Struktur der Netzhaut als auch der Funktion deutlich verbessert, was eine frühere und genauere Diagnose ermöglicht. Es wird empfohlen, Untersuchungen zur Abklärung einer Netzhautdystrophie in einem Schwerpunktzentrum für diese Erkrankungen durchführen zu lassen. (..)
Die wichtigste Untersuchung, um eine Netzhautdystrophie nachzuweisen, ist die Elektroretinografie (ERG). Bei Verdacht auf eine Netzhautdystrophie sollte mindestens einmal eine ERG gemacht werden. Bei einer elektrophysiologischen Untersuchung werden die feinen Ströme in den Nervenzellen der Netzhaut abgeleitet. Diese Untersuchung ermöglicht, Funktionsstörungen der Netzhautsinneszellen frühzeitig aufzudecken. Um die globale Funktion der Netzhaut zu testen, wendet man die so genannte Ganzfeldelektroretinografie an. (..)
Große Hoffnung legt man in die Entwicklung von gentechnischen Methoden zur Behandlung der Netzhautdystrophien. Dabei werden von außen gesunde Gene in das erkrankte Gewebe eingeschleust, was zu einer Verbesserung der Funktion führen soll. In den letzten Jahren wurden die ersten Behandlungen am Menschen mit erfolgversprechenden Ergebnissen durchgeführt. Diese Therapie ist jedoch noch nicht ausgereift und bisher auch nur für einige wenige Mutationen in Erprobung. Im Versuchsstadium befinden sich derzeit auch elektronische Implantate mit Lichtsensoren, welche unabhängig von der zu Grunde liegenden Mutation die Funktion der Netzhaut übernehmen sollen. Erblindete Patienten konnten damit in Studien nach einem speziellen Training eine sehr begrenzte Sehempfindung erreichen. (..)