11. Bildung
„Es war mir schon immer wichtig, mich weiterzubilden.“
Wir leben in einer „Wissensgesellschaft“. In unserem Alltags- und Wirtschaftsleben spielt Wissen eine immer bedeutendere Rolle. Und somit auch der Erwerb von Wissen.
Wer lernt und sich Wissen aneignet, verwendet häufig schriftliche Unterlagen und Bücher oder schaut auf einen Bildschirm. Wie aber können Menschen, die blind oder sehbehindert sind, Informationen aufnehmen und Bildung erwerben? Was brauchen sie, um Bildungsangebote nutzen zu können? Was steht dem im Wege?
Ein entscheidendes Problem beim Bildungserwerb liege an der Art des Unterrichtsmaterials, sagt David Föttinger von der Beruflichen Assistenz und Akademie BSV GmbH.
„Das Bildungsgut, ob analog oder digital, müsste so aufbereitet sein, dass es für Personen, die blind oder sehbehindert sind, lesbar oder erfassbar ist.“
Das bedeutet, eine Person, die sehbehindert ist, die also über einen Sehrest verfügt, ist vor allem auf eine Vergrößerung angewiesen. Also zum Beispiel auf Schriftgröße 18 oder 24, sei es bei Unterlagen aus Papier oder am PC. Wichtig seien aber auch unterschiedliche Kontraststufen, so Föttinger: „So kann ich beispielsweise schwarzen Text auf weißem Blatt mit einem Filter umkehren zu weißem Text auf schwarzem Blatt, damit der Text besser gelesen werden kann.“ Personen, die sehbehindert sind, benötigen außerdem eine spezielle, eine geeignete Beleuchtung am Arbeitsplatz, je nachdem ob jemand blendempfindlich ist oder ein besonders starkes Licht braucht.
Wer blind ist, muss die Brailleschrift beherrschen, um zu lernen und sich zu bilden. Wer am Computer arbeitet, verwendet Hilfsmittel wie eine Braillezeile und eine Sprachausgabe. „Diese Sprachausgabe“, so Föttinger, „ist am Computer in Form von Software installiert. Aber es gibt auch Geräte, die den Text auf einem Zettel in Sprache umwandeln.“
Ein Kind, das blind geboren wird, verwendet schon früh verschiedene Hilfsmittel, um die Welt zu entdecken und Neues zu lernen. Es eignet sich bereits in der Volksschule die Brailleschrift und erste Kenntnisse am PC an. Ganz anders ist die Situation, wenn eine Person aufgrund einer Augenerkrankung später im Leben erblindet und ihren Beruf als Architekt:in oder Friseur:in nicht mehr ausüben kann. Wenn der Sehsinn nicht mehr verfügbar ist, muss man sich zuerst neue Fertigkeiten aneignen, um überhaupt wieder lernen und sich weiterbilden zu können. Wieder anders geht es einem Menschen, dessen Sehvermögen sich kontinuierlich oder schubartig verschlechtert. In diesem Fall müssen die Hilfsmittel immer wieder angepasst werden. Es reicht zunächst vielleicht, dass der Lern- und Arbeitsplatz mit speziellen Lampen ausgeleuchtet wird. Später braucht man dann ein Lesegerät oder ein Vergrößerungsprogramm.
Marion Wallys Sehvermögen, sie leidet an einer erblich bedingten Netzhauterkrankung, hat sich vor fünf Jahren stark verschlechtert. Die gebürtige Wienerin, die schon lange in Niederösterreich lebt, war bis dahin in einem Bauunternehmen in Zwettl beschäftigt. Eine klassische Sekretärin, die sich um alles gekümmert habe, sei sie gewesen. „Also Korrespondenz erledigen, Rechnungen schreiben, Lohnverrechnung und Buchhaltung vorbereiten, Kaffee kochen, Lagerstände prüfen, Reparaturen organisieren, unsere Burschen bei Laune halten, schauen, dass der Bauleiter die Termine einhält, Lieferscheine schreiben und quittieren und die Kundschaft betreuen.“
Damals kommt vieles zusammen, Marion Wallys Sehkraft lässt stark nach, die Verdachtsdiagnose bestätigt sich und ihr Lebensgefährte erkrankt schwer. Sie benötigt einige Monate, um wieder auf die Beine zu kommen. Eine psychologische Rehabilitation hilft ihr dabei sehr. In den beiden darauffolgenden Jahren verschlechtert sich ihre Sehkraft weiter. Sie wendet sich an den Blinden- und Sehbehindertenverband (BSV WNB). Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll.
„Ich hab mich in Zwettl gar nicht mehr allein auf die Straße getraut, weil ich mögliche Gefahren nicht mehr einschätzen konnte.“
Sie hat fast ihr ganzes Berufsleben im Büro gearbeitet. Wie aber soll sie diese Tätigkeit jetzt bewältigen? Arbeitsmarktservice (AMS), Arbeitsassistenz sowie der Blinden- und Sehbehindertenverband kooperieren und beraten Marion Wally. Sie macht zunächst ein Training für Orientierung und Mobilität, außerdem lernt sie, mit den Hilfsmitteln, die sie nun braucht, umzugehen. Erst diese Trainings eröffnen ihr die Möglichkeit, sich weiterzubilden und einen Kurs am WIFI zu besuchen.
Wer stark sehbehindert ist, benötigt, wie bereits erwähnt, Mittel zur Vergrößerung. David Föttinger, Technische Arbeitsassistenz und EDV Training: „Wenn ich am Computer arbeite, nutze ich Vergrößerungsprogramme. Ich muss mich einschulen lassen, um die Bedienung zu beherrschen. Wenn ich mit Schriftgut, mit Büchern oder Zetteln zu tun habe, kann ich zum Beispiel ein Lesegerät zum Vergrößern verwenden. Das ist im Wesentlichen eine Kamera mit einem Bildschirm, und die Kamera zoomt in den Text hinein.“
Marion Wallys Hilfsmitteltraining findet in einer kleinen Gruppe statt und erstreckt sich über einige Wochen.
„Ich wollte beim WIFI Kurs mit den anderen Schritt halten können. Es ging bei mir also darum, dass ich am PC trainiere, mit einer Vergrößerungshilfe zu arbeiten. Dass ich außerdem lerne, den PC ohne Maus zu bedienen und stattdessen die verschiedenen Tastenkombinationen anwende.“
So geschult ist Marion Wally in der Lage, einen Vorbereitungslehrgang für die Lehrabschlussprüfung als Bürokauffrau am WIFI zu besuchen. „Ich habe es sehr genossen, ein ganz normales Bildungsangebot annehmen zu können.“ Dies ist einerseits aufgrund des Hilfsmitteltrainings möglich, andererseits aber auch, weil Marion Wally von der Bildungsassistenz unterstützt wurde. „Die Bildungsassistenz hat dafür gesorgt, dass meine Unterlagen so aufbereitet sind, wie ich sie brauche und dass die Hilfsmittel vorhanden sind, die ich benötige, um arbeiten zu können.“ Die Bildungsassistenz nimmt auch Kontakt mit den Trainer:innen der jeweiligen Bildungseinrichtung auf und informiert die Vortragenden und Lehrkräfte darüber, was eine Person, die blind oder sehbehindert ist, braucht. „Es ist allerdings sehr bedauerlich, dass die Bildungsassistenz nur in Wien zur Verfügung steht. Ich würde mir wünschen, dass es diese wichtige Unterstützung auch in Niederösterreich und im Burgenland gibt.“
Marion Wally, die von sich sagt, dass sie wissbegierig sei, dass sie leicht und gern lerne und bereits früher Fortbildungskurse gemacht habe, erlebt eine neue Situation. Jetzt ist sie keine „normale“ Kursteilnehmerin, jetzt ist sie eine Kursteilnehmerin mit einer starken Sehbehinderung. „Ich bin zum ersten Mal in einen Kurs gegangen ohne zu wissen, wie tu ich mir da jetzt. Es war eine neue Situation, aber nicht nur für mich, auch für die Trainer:innen und für die Kolleg:innen.“
Am Anfang herrschen eine gewisse Unsicherheit und Befangenheit, doch diese sind bald verflogen. Dazu trägt auch die kommunikative und direkte Art von Marion Wally bei. Die Trainer:innen bemühen sich, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Und die Kolleg:innen verlieren bald die Scheu und sind interessiert und neugierig.
„Ein Kollege, der in meiner Nähe gesessen ist, hat gesagt: ‚Ich versteh das net, wie machst du das, beim Lesen bist ja furchtbar langsam und trotzdem bist du immer schneller fertig als ich.‘ (Lacht herzlich und zufrieden) Ich muss sagen, ich hab wirklich wunderbare Kolleg:innen und Trainer:innen gehabt.“
Der Kurs dauert acht Wochen, der Unterricht findet von Montag bis Freitag statt. Die Prüfung legt Marion Wally am PC ab und sie erhält mehr Zeit als die anderen. „Für mich hat das gut geklappt. Ich kann also sagen, ich bin ausgebildete Bürokauffrau und mir hat dieser Kurs sehr gut gefallen.“
Solche Rahmenbedingungen ermöglichen es Menschen, die sehbehindert oder blind sind, Bildungsangebote zu nutzen. David Föttinger verweist auch auf gesetzliche Vorgaben, die besagen, dass Unterrichtsmaterialien entsprechend aufbereitet werden müssen. „Schulen haben diese Pflicht, zumindest Pflichtschulen. Es ist mir aber auch wichtig, zu sagen, dass wir von der Beruflichen Assistenz und Akademie kostenfrei Informationen weitergeben, wie man Unterlagen entsprechend aufbereitet. Wir wollen natürlich dazu beitragen, dass Bildungsangebote von Menschen, die blind oder sehbehindert sind, genützt werden können und dass unsere Bildungssysteme möglichst barrierefrei werden.“
Wer Fragen zur Barrierefreiheit im Bildungswesen hat, kann sich an die Berufliche Assistenz und Akademie BSV GmbH wenden. Ebenso betroffene Personen, die sich über geeignete Hilfsmittel und Förderungen informieren möchten.
Mag. Ursula Müller August 2022