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3. Mit dem Verlust leben lernen

Interview mit Mag. Marion Putzer-Schimack


Wer blind geboren wird, wer aufgrund einer Erkrankung zunehmend weniger sieht oder wer plötzlich sein Augenlicht verliert, ist gefordert, sein Leben anders zu gestalten. Unsere Serie Blind durch den Alltag beleuchtet diesen vielschichtigen Prozess.

In unserem Interview mit Mag. Marion Putzer-Schimack, Mitarbeiterin des BSVWNB und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision, geht es um die Frage, was ein Mensch durchlebt, der sein Augenlicht verliert.


Vielen gilt der Sehsinn als der wichtigste unserer Sinne. Wissenschaftlich ist dies nicht belegt. Doch unbestritten ist, dass wir einen großen Teil der Informationen über unsere Umgebung mit den Augen wahrnehmen. Wie ergeht es Menschen, die zum Beispiel aufgrund eines Unfalls plötzlich erblinden?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Dein Leben wird auf den Kopf gestellt. Viele Dinge, die du bis jetzt gemacht hast, kannst du nicht mehr tun, wie Autofahren, Bücher und Zeitungen lesen oder kochen. Und wahrscheinlich kannst du deinen Job nicht mehr ausüben. Du bist auf Hilfe angewiesen. So etwas verändert deine Beziehungen, deine Partnerschaft. Du erlebst starke Ängste. Es werden Lebenspläne zunichte gemacht. Du fragst dich, wie dein Leben weitergehen soll. Am Anfang ist man in einem Schockzustand. Später, wenn der Verarbeitungsprozess gut funktioniert, beginnt man, neue Strategien zu suchen. Aber am Anfang geht das noch nicht.

Viel häufiger kommt es ja vor, dass Menschen aufgrund einer Augenerkrankung langsam ihr Sehvermögen verlieren und sich dieser Prozess über viele Jahre hinzieht.

Mag. Marion Putzer-Schimack: So war das auch bei mir.

Ich habe immer wieder erlebt, dass ich plötzlich etwas nicht mehr tun konnte.

Ich habe zuerst ein Gerät zum Vergrößern, ein Bildschirmlesegerät bekommen und mich gefreut, dass ich doch noch die Zeitung und Bücher lesen kann. Als das nicht mehr ging, habe ich die Sprachausgabe verwendet. Ich bin also immer wieder mit diesen schmerzhaften Verlusten konfrontiert worden. Und ich bin ständig dabei, etwas auszuprobieren und zu optimieren, um mir den Alltag zu erleichtern.

Ihre genetisch bedingte Augenerkrankung, Retinopathia pigmentosa (RP), wurde bei Ihnen festgestellt, als Sie zwei Jahre alt waren. Sie haben eine Regelschule besucht, waren nach der Volksschule im Gymnasium und haben dann Pädagogik studiert.

Mag. Marion Putzer-Schimack: Meine Eltern haben mich sehr unterstützt. Nur mit ihrer Hilfe konnte ich eine Regelschule, ein Gymnasium besuchen. Auf der Uni habe ich meine Unterlagen immer sehr stark vergrößert. Aber im Alter von 25 Jahren, am Ende meines Studiums, verschlechterte sich mein Sehvermögen drastisch. Ich konnte keine Schrift mehr lesen, ich habe mich in Wien, wo ich aufgewachsen bin, nicht mehr zurechtgefunden. Ich konnte keine Ampeln erkennen und nicht mehr alleine zum Arzt oder einkaufen gehen. Das waren lauter kleine Katastrophen für mich. Ich hatte auch das Gefühl, dass ich meinen Lebenstraum begraben muss. Ich wollte mit meinem Mann einen kleinen Bauernhof außerhalb von Wien erwerben, wollte einen Garten, Obstbäume und Tiere haben. Aber dann konnte ich plötzlich nicht einmal mehr alleine in die Bäckerei gehen.

Wie haben Sie diese Situation erlebt?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Es ist mir sehr wichtig, selbstständig zu sein und plötzlich habe ich für alles Hilfe gebraucht. Das hat mich sehr grantig gemacht. Und ich habe mich geschämt.

Ich wollte mich nicht outen. Ich bin immer eingehängt gegangen, wenn ich mit meinem Mann oder meinem Vater unterwegs war, damit niemand bemerkt, wie wenig ich sehe.

Ich habe mich zurückgezogen, wollte meine Freunde nicht mehr treffen. Denn solange die anderen es nicht wissen, muss ich es auch mir selbst gegenüber nicht eingestehen. Ich habe überall versucht, meinen Sehverlust zu kompensieren. Auch an meinem Arbeitsplatz. Doch das kostet unglaublich viel Kraft und das Leben wird immer schwieriger.

Was hat es Ihnen ermöglicht, einen anderen Weg zu gehen und aus diesem Gemisch aus Scham, Wut, Hilflosigkeit und Abhängigkeit herauszufinden?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Bei mir waren es zwei Ereignisse. Ich habe damals mit der Ausbildung zur Psychotherapeutin begonnen und das beinhaltet ja immer, dass man selbst eine Psychotherapie macht. Aber davor gab es noch etwas anderes. Und zwar haben mein Mann und ich meine Schwiegereltern zum Dialog im Dunkeln eingeladen. Für diesen Spaziergang in der Dunkelheit bekommt jeder einen Blindenstock in die Hand gedrückt. Das war für mich ein unglaubliches Aha-Erlebnis. Schlagartig war mir klar, dass ich mich mit diesem Stock bewegen kann, auch wenn ich nichts sehe, und ich hab gespürt, ich krieg das hin.

Der weiße Stock, für die anderen das sichtbare Zeichen, dass eine Person blind oder stark sehbehindert ist, ermöglichte Ihnen also einen Befreiungsschlag? Haben Sie sich dann gleich dieses Hilfsmittel gekauft?

Mag. Marion Putzer-Schimack:  Na ja, es hat alles seine Zeit gebraucht. Ich war zuerst im Blinden- und Sehbehindertenverband (BSV), hab mir dort einen Stock ausgeborgt und probiert, damit zu gehen. Und zwar bin ich mit meinem Mann ganz spät am Abend draußen unterwegs gewesen, damit mich ja niemand sieht. Aber ich habe gespürt, dass mein Leben wieder beginnt, dass ich wieder etwas schaffen kann. Nach diesen ersten Versuchen habe ich beim BSV ein Mobilitätstraining absolviert und nach einiger Zeit konnte ich wieder alleine einkaufen oder zum Arzt gehen. Es war nicht leicht. Es hat mich am Anfang ziemlich überfordert, aber ich hab mein Leben zurückgekriegt, ich war wieder selbstständig.


Wie haben die anderen reagiert? Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren Mitmenschen gemacht?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Jetzt redet mich niemand mehr blöd an, wenn ich in ihn reinrenne. Was mir früher natürlich immer wieder einmal passiert ist. Der Busfahrer wartet auf mich. Auf der Straße oder im Supermarkt wird mir Hilfe angeboten.

Mein Leben hat sich unglaublich positiv verändert, seit ich mich geoutet habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich nicht geniert hätte.

Ich habe noch länger gebraucht, bis ich den Stock als meinen ständigen Begleiter akzeptiert hatte. Eine Zeitlang habe ich ihn immer schnell zusammengeklappt, wenn irgendwo Bekannte aufgetaucht sind. Inzwischen ist er mein bester Freund. Ich nehme ihn auch, wenn ich mit meinem Mann unterwegs bin. Es ist mir wichtig, dass die anderen Leute sich auskennen.

Welche Rolle spielt die Familie, spielt der Partner oder die Partnerin, wenn es darum geht, Zug um Zug wieder selbstständiger zu werden?

Mag. Marion Putzer-Schimack:  Eine sehr wichtige Rolle. Mein Mann hat mich immer wieder dazu ermutigt. Er ist überhaupt kein Kümmerer. Und ich glaube, dass er sehr froh ist, dass ich mir meine Selbstständigkeit wieder zurückerobert habe. Bei meinem Vater ist das ein bisschen anders. Er ist schon ein Kümmerer. Wie ich das erste Mal alleine mit dem Zug fahren wollte, hat er mir sofort angeboten, mich mit dem Auto zu chauffieren. Das ist zwar nett gemeint, aber ich habe mich energisch zur Wehr gesetzt und darauf beharrt, öffentlich zu fahren. Natürlich hatte ich alle möglichen Ängste. Werde ich die Zugtür finden? Werde ich richtig ein- und aussteigen können? Ich musste meine Ängste überwinden, das kostet Kraft. Aber ich will mobil sein. Ich bin sehr glücklich, dass ich mir meinen Traum von einem Haus mit Garten trotz alledem erfüllen konnte. Unser Haus ist in der Nähe vom Bahnhof und inzwischen ist es für mich schon ganz normal, mit der Bahn zu fahren.

Haben Sie auch Kontakt zu Menschen gesucht, die blind oder stark sehbehindert sind?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Mein Mann und ich haben damals an einer geführten Wanderung teilgenommen, die vom BSVWNB veranstaltet wurde. Dort habe ich zwei Frauen kennengelernt, die blind sind, aber in ihrem Leben alles machen, was sie machen wollen. Sei es Sport, Reisen oder Wandern. Und die total nett sind, wir haben uns angefreundet.

Es hilft sehr, solchen Menschen zu begegnen. Sie sind Vorbilder, sie sind role models.

Sie zeigen dir, dass das Leben nicht zu Ende ist, dass du nicht in einem Pflegeheim dahinvegetieren musst, wenn du erblindest. Sondern dass du dein Leben wieder in die Hand nehmen kannst.

Bedeutet dies, dass man sich vom Sehverlust nicht niederdrücken lassen muss, sondern für viele Dinge des Alltags neue Lösungen und Strategien finden kann?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Natürlich ist es wichtig, dass man sich darauf konzentriert, Lösungen für die Dinge des Alltags zu finden. Aber manchmal muss man sich auch das Problem anschauen. Ich muss auch traurig und verzweifelt sein dürfen, Angst und Wut empfinden dürfen. Diese Gefühle sind einem oft unangenehm, man will sie nicht haben, man konzentriert sich lieber auf die Lösung. Aber der Schmerz über den Verlust des Sehvermögens ist ja da. Die Angst, völlig zu erblinden, die Fantasien, ganz im Dunkeln zu leben, tauchen ja immer wieder auf. Es kostet sehr viel Kraft, diese Gefühle zu verdrängen. Es heißt ja, starke Gefühle, die man ignoriert, werden stärker. Und starke Gefühle, die man annimmt, werden schwächer mit der Zeit. Das kann ich nur bestätigen. Ich habe in meiner Ausbildung zur Psychotherapeutin erfahren, dass es letztlich entlastend ist, wenn ich den Schmerz hernehme, wenn ich weinen oder wütend sein kann. Und die Psychotherapie bietet eine Möglichkeit, dies zu tun und dabei begleitet zu werden.

Wenn man sein Sehvermögen gänzlich oder weitgehend verliert, stürzt man fast unweigerlich in ein tiefes Loch. Wie findet man da wieder heraus?

Mag. Marion Putzer-Schimack: Ich könnte sagen, mit Mut, Ausdauer oder Ehrgeiz. Doch nicht jeder Mensch verfügt über diese Eigenschaften. Und wenn jemand in einer Depression ist, nützt es gar nichts, zu sagen, tu was, sei mutig, reiß dich zusammen. Das funktioniert nicht. Das macht nur Druck und erweckt Widerstand. Aber man kann sich Hilfe holen. Man kann sich an den Blinden- und Sehbehindertenverband (BSV) wenden oder an eine andere Organisation. Allein wird man damit schwer fertig. Ich kann nur appellieren, dass man sich Hilfe holt und dass man sich auch nicht scheut, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Mir hat das sehr viel gebracht.

So habe ich gelernt, dass diese Behinderung ein Teil von mir ist und dass sie zu mir gehört.

Natürlich erschwert mir diese Behinderung immer wieder mein Leben, aber inzwischen mag ich mein Leben so wie es ist, weil es viel Gutes hat. Klar geht mir meine Behinderung manchmal auf die Nerven, klar hadere ich auch von Zeit zu Zeit damit. Aber ich habe in der Psychotherapie gelernt, sie anzunehmen und mich nicht mehr dafür zu schämen, mich zu outen und offen damit umzugehen. Und das hat einen positiven Kreislauf in Gang gesetzt. Wenn man wieder Boden unter den Füßen spürt, fällt es einem leichter, neue Fähigkeiten zu erwerben.

Danke für das Gespräch.

Der BSVWNB informiert über Gesprächsrunden und Selbsthilfegruppen.

Mag. Marion Putzer-Schimack bietet Psychotherapie an.

 

Mag. Ursula Müller September 2021