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5. Fast wie eine Detektivin

Interview mit Andrea Wahl


Andrea Wahl vom Blinden- und Sehbehindertenverband (BSV WNB) unterstützt Menschen, die blind oder sehbehindert sind, ihren Alltag zu bewältigen.

Frau Wahl, Sie sind Trainerin für Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) und arbeiten mit Menschen, die aufgrund ihrer Sehbehinderung oder Erblindung die Dinge des Alltags nicht so machen können, wie sie es gerne machen würden. LPF umfasst ja fast vieles wie zum Beispiel kochen, putzen, waschen, bügeln, Ordnung halten, Körperpflege, Haushaltsgeräte und Hilfsmittel benutzen, mit Geld oder Medien umgehen oder Medikamente einnehmen. Jede Person ist anders und braucht etwas anderes. Aber gibt es etwas, das alle benötigen, um wieder selbstständig leben zu können?

Andrea Wahl: Ja, alle müssen Denkprozesse in Angriff nehmen. Das sind ganz banale Denkprozesse, die den Alltag betreffen. Alle stehen vor der Frage: Was habe ich früher gemacht und was will ich weiterhin machen? Dann komme ich ins Spiel und dann geht es um die Frage: Wie mache ich jetzt die Dinge, die ich weiterhin tun will?

Der BSV WNB bietet das Training Lebenspraktischer Fähigkeiten genauso an wie das Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M). Sowohl für das eine wie für das andere Training kann um Zuschüsse angesucht werden. Wer wendet sich an Sie? Werden Sie vor allem von betroffenen Personen kontaktiert oder eher von Angehörigen?

Andrea Wahl: Häufig wenden sich Angehörige an uns, die die betroffene Person unterstützen, aber in bestimmten Situationen auch nicht mehr weiterwissen. Wir werden zum Beispiel gefragt: Wie kann man sein Mobil- oder Festnetztelefon bedienen oder eine Uhr ablesen, wenn man kaum noch etwas sieht? Welche Alternativen gibt es für jemanden, der sein Leben lang gerne Bücher gelesen hat? Wie kann man sich ein Essen warm machen?

Denn die meisten Menschen möchten auch dann möglichst selbstständig leben und ihren Angehörigen nicht zur Last fallen, wenn sie nur noch wenig sehen.

Angehörige, die nicht sehr viel Zeit haben sich zu kümmern, wünschen sich von mir, dass die betroffene Person bestimmte Dinge lernen sollte, um selbstständig zu bleiben. Aber diese will vielleicht etwas ganz anderes von mir. Ich vereinbare also zunächst einmal ein erstes kostenloses Gespräch, wo man mich und meine Angebote kennenlernen kann. Bei diesem ersten Termin ist es mir immer sehr wichtig, zu beobachten, hinzuhören und zu verstehen, was gebraucht wird, wo der Haken liegt, wo die Grenzen sind. Und welche Denkprozesse noch in Gang kommen müssten, auch bei den Angehörigen.

Was genau verstehen Sie unter diesen Denkprozessen? Müssen Betroffene und Angehörige umdenken, umlernen, wenn der Sehsinn nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung steht?

Andrea Wahl: Es geht nicht darum, umzudenken. Es geht darum, nachzudenken. Immer wieder höre ich bei meiner Arbeit den Satz: Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht! Viele wundern sich, dass ihnen das Glas runterfällt, wenn sie so wie früher danach greifen und nicht, indem sie mit der Hand am Tisch entlangkrabbeln, bis sie das Glas fühlen.


In der Regel besuchen Sie die Personen zuhause, die ein LPF Training machen. Wie gehen Sie vor?

Andrea Wahl: Die Leute haben ja selber schon viel ausprobiert und überlegt, wenn ich das erste Mal zu ihnen komme. Zunächst beobachte ich sehr aufmerksam und gebe Rückmeldungen. Dann sage ich vielleicht: Schauen Sie, Sie krabbeln ja mit den Händen zum Glas. Dann hör ich: Ja, sonst ist es mir immer umgekippt und jetzt hab ich es mir so angewöhnt. Vielen hilft es schon, wenn sie sich schon beim ersten Termin bestätigt fühlen. Wenn sie merken, dass sie auf dem richtigen Weg sind und wieder eine Perspektive haben.

Eine hilfreiche Regel lautet ja, dass die Dinge ihren festen Platz haben. Dass also Schlüssel, Mobiltelefon oder Hausschuhe immer am selben Platz sind. Nennen Sie noch ein paar konkrete Beispiele, die das Leben spürbar erleichtern.

Andrea Wahl: Viele ältere Menschen wachen in der Nacht öfters auf und möchten wissen, wie spät es ist. Wenn sie am Nachttisch eine sprechende Uhr griffbereit liegen haben, ist das Problem gelöst. Aber viele wissen gar nicht, dass es so etwas gibt und fragen mich danach. Ich bin dann in der glücklichen Lage, dass ich gleich auf den Hilfsmittelshop des BSVWNB verweisen kann.

Ist es sinnvoll und notwendig, die Wohnung zu verändern und möglichst alle Möbelstücke, die im Weg stehen könnten, wegzuräumen, damit man nicht anstößt und sich weh tut?

Andrea Wahl: Auf keinen Fall! Am wichtigsten ist, dass alles so bleibt, wie man es gewohnt ist. Viele Angehörige meinen ja sogar, dass man in ein spezielles Heim müsse, wenn man kaum noch etwas sieht. Da antworte ich: Um Himmels willen, das ist das Schlimmste, was Sie Ihrem Angehörigen antun können, denn dann ist seine Umgebung völlig fremd und ungewohnt.

Gewohnheiten sind ganz, ganz wichtig.

Nehmen wir den Weg zur Toilette. Die Leute kennen diesen Weg. Ich gebe dann vielleicht nur den Tipp, ein bisschen schlurfend zu gehen. So spürt man mit den Fußspitzen gleich, ob man zu nah an ein Möbelstück oder den Türstock gekommen ist und kann sofort ausweichen. Also die Füße werden sehr wichtig, wichtiger als dies vielen bewusst ist. Oder ich weise darauf hin, dass am Ende des Teppichs gleich die Tür kommt. Der Teppich ist also keine Stolpergefahr, sondern eine gute Orientierungshilfe.

Gibt es Prinzipien, die Ihren Tipps zugrunde liegen?

Andrea Wahl: Ja, die Wege kurz halten und die Dinge möglichst griffbereit aufbewahren. Also zum Beispiel genügend Toilettenpapier griffbereit im WC lagern und Stauraum schaffen, falls nicht vorhanden. Oder den Mistkübel neben das WC stellen, um Hygieneartikel oder Einlagen, die man benutzt, gleich entsorgen zu können.


Wie würden Sie Ihre Herangehensweise beim Training für LPF charakterisieren?

Andrea Wahl: Ich schaue zu, wie die Leute es machen und was sie für Methoden haben. Wenn es passt, bestätige und bestärke ich sie. Hauptsache es funktioniert. Nur dort wo ich merke, dass es hängt, hake ich ein. Das meiste passt, es sind immer nur Kleinigkeiten, wo es hängt. Ich sag‘ so, ich finde mich im Beruf der Detektivin ein bisschen wieder. (Lacht)

Wie viele Stunden, wie viele Trainingseinheiten sind notwendig, um den Alltag wieder bewältigen zu können?

Andrea Wahl: Es sind wenige Stunden erforderlich, weil ich diese Denkprozesse forciere und nicht immer nur Tipps gebe. Mir ist es wichtig, dass die Betroffenen selbst sehen: Aha, hier geht es um Markierung oder um Dosierung. Oder hier geht es mir darum, eine sehende Person in Anspruch zu nehmen, zu entscheiden, was mir wichtig ist oder was ich sein lassen möchte.

Zurück zu alltagspraktischen Fragen. Wie gehe ich am besten vor, wenn ich mir in der Früh meinen Filterkaffee kochen möchte, ohne dabei das Kaffeepulver zu verschütten?

Andrea Wahl: Das schaffe ich durch Denkprozesse. Ich bewege meine Hand genauso wie sonst, nur in Einzelschritte aufgeteilt.

Wir LPF TrainerInnen sind es gewohnt, Handlungsanalyse zu betreiben.

Was mache ich, wenn ich Kaffee zubereite? Wir machen jeden einzelnen Schritt bewusst. Also ich drehe meine Hand, während ich den Löffel in das Kaffeepulver tauche, ich hebe den Löffel mit dem Kaffee hoch, geh nach links oder rechts Richtung Filter. Der Weg soll kurz sein, alles soll nah beieinander stehen. Ich halte den Löffel über dem Filter, senke den Löffel in die Filtertüte ab und drehe ihn erst dann um. Ich lasse also nicht das Pulver schon von oben hinunter fallen.

Wenden wir uns nun den Lebensmitteln im Kühlschrank zu. Wie erkenne ich, ohne zu kosten, dass die Milch verdorben und der Käse schimmlig ist?

Andrea Wahl: Gar nicht. Manche behaupten, dass sie es riechen, aber das ist selten. Hier geht es um Prophylaxe. Das muss man fördern, denn viele haben das nicht in ihrem Alltag eingebaut. Also keine großen Vorräte anlegen, sondern kleine Mengen einkaufen. Auch einmal von einer sehenden Person kontrollieren lassen. Schon beim Einkauf darauf achten, was man einkauft oder dass jemand mitschaut. Überlegen, wie lange man ein Lebensmittel im Kühlschrank hat. Die alten Lebensmittel verwerten und dann erst die neuen anbrechen. Ganz bewusst haushalten. Geruchs- und eventuell auch Geschmacksproben machen. Obst und Gemüse kann ich befühlen. Und wenn die Zwiebel weich ist, stimmt was nicht. Einfach großzügig denken und weg damit.


Wie weiß ich, wie viel Geld ich in der Hand habe?

Andrea Wahl: Man kann zum Beispiel mit den Händen die verschiedenen Münzen und Scheine abtasten. Man behilft sich mit den Händen, man misst die Länge und Breite der Scheine mit den Fingern ab. Die Finger sind eine super Messhilfe. Wenn man mit der Karte zahlt, ist die Code Eingabe meistens ein Problem. Man muss sich die Tastatur merken. Die Fünf ist in der Regel markiert und wenn man sich damit beschäftigt, dann weiß man wo die Ziffern sind.

Wie finde ich Fleisch oder Gemüse in der Tiefkühltruhe?

Andrea Wahl: Ich kann die Lebensmittel vorher markieren. Ich gebe ein Gummibändchen um das Fleisch und ein festes Bändchen um das Gemüse herum und schon hat man Fleisch und Gemüse unterschieden. Dann kann ich noch Symbole für Tomaten und Paprika verwenden, runde oder dreieckige Anhänger. Oder man beschriftet alles, was in die Tiefkühltruhe kommt, mit einem speziellen Stift, der mir später die Beschriftung vorliest.

Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten und Herangehensweisen, ich mache Angebote und die Menschen schauen, was für sie passt.

Wir LPF TrainerInnen haben keine Patentrezepte. Uns hilft die Erfahrung.

Was braucht man, um diesen Beruf auszuüben?

Andrea Wahl: Geduld und Beobachtungsgabe und das Gespür, wo man ansetzt und wo man die Menschen weiter so tun lässt, wie sie es ohnehin schon machen. Je mehr man sie sein lassen kann, desto mehr Sicherheit vermittelt man ihnen. Das ist unser Anliegen. Wir wollen ja nicht ihr Leben umkrempeln, wir wollen ja nur das rausholen, was da ist. Diese Fähigkeiten sind da, es geht oft nur darum, zusätzlich ein paar Fertigkeiten zu entwickeln, um im Alltag wieder gut zurecht zu kommen.

Danke für das Gespräch

Nützliche Links:

Training in LPF
Hilfsmittelshop