6. Ein Stück vom Strudel
- von Eva Papst
Wie kochen und backen blinde Menschen? Es gibt eine ganze Reihe von Hilfsmitteln für die Küche, wie etwa sprechende Küchenwaagen, tastbare Kurzzeitmesser, Messbecher mit fühlbaren Markierungen und viele andere Küchenhelfer wie Pizzarad, Eitrenner und natürlich Spezialwerkzeuge aus den diversen Haushaltsgeschäften.
Aber wie werden die Werkzeuge eingesetzt und wie das Ergebnis kontrolliert?
Gleich vorweg: Einen "Lösungsweg", wie blinde Menschen kochen und backen (sollen/können), gibt es nicht. Jede und jeder entwickelt eine ganz eigene Methode.
Das Rezept
Ob nun auf einer Internetseite, in einem Kochbuch in Brailleschrift oder im Kopf – irgendwo gibt es eine Zutatenliste.
In einem ersten Schritt stelle ich alles bereit, was ich brauchen werde. Meine Lebensmittel wie Mehl oder Zucker befinden sich in dichten Kunststoffbehältnissen und tragen an der Vorderseite eine Beschriftung in Braille-Schrift – und sie haben ihren fixen Platz; ich könnte also auch im wahrsten Sinn des Wortes blind danach greifen.
Bei vielen Gerichten benötige ich keine Waage oder Messbecher und mische die Zutaten nach Gefühl und Erfahrung. Blind oder nicht: Das trifft sicher auf viele Menschen zu, die sich in der Küche beschäftigen.
Für meinen Nussstrudel aus Germteig kommt meine Küchenwaage zum Einsatz. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein spezielles Hilfsmittel, sondern um ein Erbstück meiner Großmutter – eine uralte Gewichterwaage. Das Prinzip ist ebenso simpel wie "blindengerecht": Links und rechts befindet sich je eine Waagschale aus Kupferblech und in der Mitte eine Zunge, die sich mit den Waagschalen mitbewegt. In die kleinere Waagschale kommen die Gewichte, in die größere das Wiegegut.
Für mein Rezept benötige ich das 20- und das 5-dkg-Gewicht; in die andere Waagschale fülle ich das Mehl, und zwar so lange, bis die Zunge der Waagschalen mit dem an der Basis montierten senkrechten Zeiger deckungsgleich ist. Ich benötige insgesamt 50 dkg, also wird der Wiegevorgang wiederholt. Die 50 dkg Mehl befinden sich jetzt in einer großen Schüssel.
Nun füge ich mit den Fingern eine Prise Salz dazu und mische es mit dem Mehl, und zwar mit den Händen.
Inzwischen hat die bereitgestellte Milch Zimmertemperatur, ist also bereit für das Dampfl. Ich benötige insgesamt 1/4 l Milch; also so viel, wie in meine Frühstückstasse passt. Eine Messeinrichtung ist also überflüssig. Im Hilfsmittelshop sind übrigens Behälter für 65, 85, 125 und 250 ml erhältlich, die ich bei anderen Gelegenheiten gerne verwende.
Von diesen 250 ml Milch gieße ich einen Teil in ein feuerfestes Gefäß mit Henkel, zerpflücke einen halben Würfel Germ und füge etwas Zucker und Mehl hinzu, rühre die Masse glatt und stelle das Dampfl so lange warm, bis die Menge mindestens zum doppelten Volumen angewachsen ist, was ich mit dem Finger prüfe. (Inzwischen habe ich mir sicher schon fünfmal die Hände gewaschen.)
Die restlichen Zutaten, 5 dk Butter und 5 dkg Zucker werden ebenfalls gewogen und kommen schon ins Mehl. Diese Masse arbeite ich mit den Händen gut durch, damit möglichst keine Butterflocken mehr zu spüren sind. Ist das Dampfl bereit, gieße ich es in die Mehlmasse und versuche mit einer weichen Spachtel möglichst alles aus dem Gefäß zu bekommen - schade um jeden Tropfen!
Nun wird einmal mit dem Kochlöffel gut umgerührt, bis die Flüssigkeit aufgenommen ist. (Das merke ich an der Konsistenz der Masse; außerdem ist beim Umrühren deutlich zu hören, ob noch Flüssigkeit vorhanden ist.)
Die beiden Eier werden gut verquirlt und mit dem Kochlöffel ebenfalls untergemengt; mit der vorbereiteten lauwarmen Milch verfahre ich ebenso.
Etwas Handarbeit
Modernere Leute als ich nutzen eine Küchenmaschine und ersparen sich den anstrengenden Teil, der jetzt folgt. In meinen jungen Jahren habe ich nach Großmutters Vorbild den Teig tatsächlich mit dem Kochlöffel aus Holz geschlagen. Heute ist mir das zu anstrengend. Daher kremple ich die Ärmel hoch, bemehle meine Hände und fasse rein ins klebrige Vergnügen. Ich knete den Teig in der Schüssel so lange, bis ein Klumpen entsteht und in der Schüssel keine großen Krümel mehr zu fühlen sind.
Danach kommt etwas Mehl auf die vorher gründlich gereinigte Arbeitsfläche und das Kneten wird fortgesetzt – jetzt ohne die hinderliche Schüssel und mit möglichst viel Kraft. Erst wenn sich der Teig ganz glatt und geschmeidig anfühlt und er sich freiwillig von meinen Fingern löst, gebe ich mich zufrieden.
Das wird in Kochbüchern meist als "seidig glatt" bezeichnet – ein Zustand, der sich mit den Fingern ebenso gut beurteilen lässt wie mit den Augen.
Der Teig wird in Mehl gewälzt, damit er nicht anklebt und, mit einem Tuch bedeckt, an einen warmen Ort gestellt, wo er eine gute Stunde rasten und zum doppelten Volumen aufgehen darf. Wer zu diesem Zeitpunkt versucht das Küchenfenster zu öffnen, wird gnadenlos rausgeworfen!
Ich habe inzwischen Zeit, die angerichtete „Sauerei“ zu beseitigen und die Nussfülle vorzubereiten.
Dazu wiege ich 30 dkg Nüsse (vom eigenen Nussbaum) und mahle diese mit meiner Nussmühle. Die ist zwar neu, aber auch nicht elektrisch, sondern mit einer Kurbel. (Ich bin eben hoffnungslos altmodisch!) Die Maschine hat übrigens fünf auswechselbare Einsätze, vom Gurkenschneider über eine Gemüseraffel bis zur feinen Nussreibe, ist also universell einsetzbar.
In die 30 dkg Nüsse mische ich etwas Kristallzucker, nur nach Gefühl, etwas Milch sowie einen guten Schuss Rum – ebenfalls nach Gefühl – und verknete die Masse kurz; sie sollte nicht krümeln; falls doch, kommt noch etwas Milch hinzu.
Den Teig teile ich in drei etwa gleich große Teile, knete ihn nochmals gut durch und rolle ihn dann mit einem Nudelwalker aus, wobei ich mit den Fingern kontrolliere, ob die Form in etwa ein Rechteck bildet und an allen Stellen möglichst gleichmäßig dünn ist. Das war anfangs eher schwierig, und manchmal bekam der Teig bei zu resoluter Behandlung auch Löcher. Aber schon meine Mutter hat mir versichert, dass dies bei allen Hausfrauen und -männern so sei. Also alles bloß Übung und Handarbeit!
Die Nussmasse teile ich ebenfalls in drei Teile und streiche sie mit der Spachtel auf dem Teig glatt. Sowohl beim Teig als auch beim Aufstreichen der Nussmasse kontrolliere ich mit den Fingern, ob es eine glatte Fläche ergibt. Erst dann rolle ich das Rechteck zusammen und drücke die Enden fest, damit keine Nussmasse austritt, und bringe den Strudel in Form.
Auf zum Endspurt
Auf dem Backblech habe ich eine Folie bereitgelegt und lege nun alle drei fertigen Strudel mit ausreichendem Abstand darauf. Natürlich muss ich auch da wieder mit den Händen gut kontrollieren. Denn manchmal liegt ein Strudel zu knapp am anderen oder schräg auf dem Blech. Wer das beim ersten Versuch nicht richtig hinbekommt und bei einem Strudel verdächtige Ähnlichkeit mit einer Schlange bemerkt, die eine Maus verschluckt hat, soll sich nichts dabei denken. Beim nächsten Mal geht es besser! Solche Schönheitsfehler tun dem Geschmack übrigens keinen Abbruch und wenn der Strudel aufgeschnitten wird, sieht man das nicht mehr.
Nun werden die Strudel mit einem Pinsel noch mit Ei bestrichen. Dabei geht immer auch etwas daneben auf die Folie – na und?
Die drei Strudel dürfen auf dem Backblech noch etwas gehen und kommen dann in das vorgeheizte Backrohr (Backzeit ca. 22-25 Minuten bei 180 Grad Ober- und Unterhitze).
Apropos Backofen. Beim Kauf meines Herdes habe ich darauf geachtet, dass die Schalter eine Pfeilform haben, damit ich fühlen kann, wo der Zeiger steht.
Welche Stellung welche Temperatur ergibt, habe ich mir damals aufgeschrieben (wo, weiß ich nicht mehr), und zwar nach der Uhrzeit: z.B. 6 Uhr = 170 Grad. Wann die eingestellte Temperatur beim Vorheizen erreicht ist, könnte ich mit einem sprechenden Backthermometer prüfen. Aber ich schalte den Ofen früh genug ein, kann darauf also verzichten.
Was die goldbraune Farbe angeht, die der fertige Strudel haben soll, muss ich mich auf die Zeit und meine Finger verlassen, denn anders als bei Kuchen hilft hier die Nadelprobe nicht. Auch hier geht Probieren über Studieren. Erfahrungswerte sind sowieso für jede Hausfrau hilfreich und notwendig.
Übrigens war das Rezept ursprünglich für zwei Strudel mit nur 20 dkg Nüssen. Da ich aber manchmal Schwierigkeiten habe, einen größeren Strudel unfallfrei aufs Blech zu befördern, habe ich den Teig auf drei Teile aufgeteilt und die Fülle mit mehr Nüssen angereichert.
Warmer Germteig ist angeblich ungesund, aber ich kann mich selten zurückhalten. Außerdem: Wie sollte ich anders feststellen, ob ich den Strudel meinen Gästen anbieten kann. Halb durchgebacken oder verbrannt kommt er mir nicht auf den Tisch! Der Test scheint also gerechtfertigt.
Das Rezept
Zutaten Teig:
1/2 kg Mehl
1/2 Germwürfel
5 dkg Butter
1/4 l Milch
1-2 Eier
5 dkg Zucker
1 Prise Salz.
Zutaten Fülle:
30 dkg Nüsse
10 dkg Zucker (ich nehme weniger!)
1 Schuss Rum (1 kleines Schnapsglas. Was "klein" bedeutet, möge jede/r selbst herausfinden)
Milch nach Bedarf
---
Eva Papst November 2021