Blinde und sehbehinderte Menschen in Zeiten der Corona-Krise

Über die großen nationalen, internationalen, ja sogar globalen Auswirkungen der Corona-Krise konnte man im Frühjahr 2020 viel in Zeitungen, Pressekonferenzen, Nachrichtensendungen in Radio oder Fernsehen und auch in allen sozialen Medien erfahren. Da ging es um Erkrankungskurven, Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Veranstaltungsabsagen und ausverkauftes Toilettenpapier. Was ist aber mit den kleinen und wenig beschriebenen, unhörbaren persönlichen Auswirkungen dieser Pandemie?
Eine Bevölkerungsgruppe, die mit ganz speziellen Herausforderungen konfrontiert wurde, ist die Gruppe blinder und sehbehinderter Menschen.
Marion Wally hatte kurz vor Beginn der Corona-Krise eine Selbsthilfegruppe im Waldviertel gegründet. Sie erzählt, dass den TeilnehmerInnen ihrer Gruppe in dieser Zeit vor allem die sozialen Kontakte abgingen. Die monatlichen Treffen konnten natürlich nicht stattfinden, und auch ein gemeinsamer Ausflug musste abgesagt werden. Sie war, wie auch die anderen GruppenleiterInnen, mit den Leuten in telefonischem Kontakt, was natürlich persönliche Treffen nicht ersetzen konnte.
Der Alltag für viele blinde oder sehbehinderte Menschen gestaltet sich in Corona-Tagen etwas komplizierter als sonst. Das Kontaktverbot führte dazu, dass Unterstützungspersonen nicht mehr ins Haus kommen dürfen oder wollen. Und manche Dinge sind ohne sehende Hilfe nicht bewältigbar.
Gerda Wallner, Sozialberaterin beim Blinden- und Sehbehindertenverband und Koordinatorin der niederösterreichischen Selbsthilfegruppen für blinde und sehbehinderte Menschen, erzählt, dass viele TeilnehmerInnen massiv unter der Isolation litten. Viele Personen trauten sich nicht hinaus, weder zum Einkaufen noch zum Spazierengehen.
„Ich kann den Menschen nicht ausweichen, weil ich sie nicht sehe. Und den Abstand einhalten kann ich auch nicht“, berichtete ein blinder Herr. „Schwierig ist auch, dass man als blinde Person das Berühren und Abtasten von Gegenständen zur Orientierung braucht. Das erhöht natürlich das Infektionsrisiko.“
Viele TeilnehmerInnen unserer Selbsthilfegruppen werden altersbedingt, aber auch wegen Vorerkrankungen, unreflektiert der Risikogruppe zugeordnet. Von einigen höre ich, dass man sich gar nicht hinaustraute, weil man „schiefe Blicke“ oder unfreundliche Bemerkungen befürchte. Schließlich soll man als älterer Mensch doch zu Hause bleiben. Und manche Krankenhäuser lehnten selbst eine Begleitperson ab, obwohl man als Patient auf sie angewiesen sei.
Alleine einkaufen gehen konnte mitunter sehr abenteuerlich werden. So erfuhr man, dass in manchen Geschäften jede Person einen Einkaufswagen nehmen musste. Als blinde Person einen solchen vor sich herzuschieben, könnte man schon fast als Allgemeingefährdung bezeichnen.
Positiv zu erwähnen ist, dass viele Geschäfte und Betriebe sich auf Hauszustellung eingerichtet hatten. Das funktionierte z.B. beim Lagerhaus Zwettl sehr gut, erzählt Frau Wally. Man könne entweder telefonisch oder auch per Mail sehr unkompliziert Lebensmittel bestellen. Diese werden direkt vor die Haustüre geliefert.
In Corona-Zeiten sind kreative Lösungen gefragt. Es braucht Phantasie und manchmal noch mehr Durchsetzungskraft als sonst, um den Alltag zu meistern. Sicher ist, dass die Corona-Krise Menschen mit Behinderung vor zusätzliche Herausforderungen stellte und stellt.
Video des ORF-Beitrags NÖ heute „Situation von Blinden während der Coronakrise“, Sendetermin: 11.05.2020
Johannes Göls, ein Leiter der regionalen Selbsthilfegruppe St. Pölten des BSVWNB, erzählt im ORF-Interview über die Herausforderungen in Zeiten der Corona-Krise für blinde und sehbehinderte Menschen.

Mit freundlicher Genehmigung des ORF: NÖ heute „Situation von Blinden während der Coronakrise“, Gestaltung: Veronika Berger
Inhalte des Videos
[Moderator:]
Einen Meter Abstand halten oder besser gesagt so groß wie ein Baby-Elefant ist, so lautet ja die Ansage. Wie schwer es sein kann, das abzuschätzen, haben die meisten von uns schon einmal erlebt. Noch viel schwieriger ist es aber für blinde Menschen. In unserer Schwerpunktreihe über die Auswirkungen der Corona-Krise auf Menschen mit Behinderung hat Veronika Berger einen Betroffenen in Karlstetten besucht.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Seit Beginn der Krise geht Johannes Göls in keine großen Supermärkte mehr. Zur Bäckerei hier in Karlstetten schon. Man kennt ihn, und es gibt Bedienung, eine große Hilfe für blinde Menschen. Aber selbst dort lauert die erste Hürde gleich hinter der Türe.“
[Bildbeschreibung:]
Ein Mann mit Blindenschleife am Oberarm und orangefarbener Brille geht über eine Straße in einem kleinen Ort. Er betritt eine Bäckerei, die Tür geht hinter ihm zu.
[Johannes Göls:]
„Wenn da drei, vier Leute in dem kleinen Geschäft stehen, dann kann´s mir passieren, ich geh da rein und stoß beim nächsten an.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls beim Interview sitzt vor einem Geländer, hinter dem ein Zaun und eine lange, dichte hellgrüne Hecke zu sehen ist.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Abstand halten, wenn man andere nicht sieht: eine Unmöglichkeit. Und noch etwas kommt erschwerend hinzu. In Geschäften soll man derzeit so wenig wie möglich angreifen.“
[Bildbeschreibung:]
Kameraschwenk in der Bäckerei über eine Verkäuferin hinter der Theke, eine Kundin und dahinter Johannes Göls; alle tragen eine Mund-Nasen-Schutzmaske.
[Johannes Göls:]
„Es ist halt für einen sehbehinderten Menschen oder für einen blinden, da sind halt die Hände die Augen. Und du musst alles angreifen, fühlen, was ist da drin oder was hab ich in der Hand.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls beim Interview.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Dass man beim Einkaufen die Hände vom Gesicht fernhalten soll, ist für Blinde kaum einzuhalten. Johannes Göls hat ein minimales Restsehvermögen, aber nur in der Nähe.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls nimmt eine Packung Spiralnudeln aus einem Regal und hält sie nah vor sein Gesicht. Er ertastet die Nudeln in der Packung und wendet sich in Richtung Kassa.
[Johannes Göls:]
„Ich nehm das meistens ganz knapp noch zu den Augen, dass ich seh, was hat denn das für eine Farbe, dass ich ungefähr an der Farbe vielleicht noch erkenne, was ist das für ein Packerl.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls beim Interview.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Johannes Göls war in den letzten Wochen besonders froh, seine Frau als Unterstützung an seiner Seite zu haben. Als Leiter einer Selbsthilfegruppe für sehbehinderte Menschen kennt er andere Blinde, die keine Hilfe haben und ihre Wohnung seit Beginn der Krise nicht mehr verlassen konnten, vor allem, wenn sie alleine leben. Was fehlt, ist eine Perspektive.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls geht Hand in Hand mit seiner Frau an einem blühenden Busch vorbei einen leicht ansteigenden Weg hinauf in Richtung Kamera. Danach sieht man das Ehepaar an einem Tisch auf einem Balkon sitzen, auf dem Tisch stehen Tassen, Frau Göls lächelt ihrem Mann zu.
[Johannes Göls:]
„Die freuen sich schon, ja, die Wirtshäuser haben wieder offen, ja, okay, aber ich weiß nicht, ob man da hingehen kann, weil, wir können keinen Abstand halten.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls beim Interview.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Die Treffen der Selbsthilfegruppe sind nach wie vor ausgesetzt, der Kontakt zu anderen Betroffenen fehlt vielen, erst recht in der Krise.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls telefoniert mit einem Smartphone, im Hintergrund weidet ein Esel auf einer Wiese.
[Johannes Göls:]
„Ich probier, dass ich mindestens einmal in der Woche also mit solchen Leuten telefonier, dass sie wieder Mut kriegen.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls beim Interview.
[Moderatorin Veronika Berger:]
„Mut, eine Eigenschaft, die blinde und sehbehinderte Menschen für die Hürden im Alltag immer wieder brauchen.“
[Bildbeschreibung:]
Johannes Göls steht vor der Bäckerei an der Straße und lässt Autos in beiden Richtungen vorbeifahren, dann läuft er auf die andere Straßenseite, bevor schon das nächste Auto die Straße entlangfährt.