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Sozialberatung für blinde Menschen

Eine Sozialberaterin im Portrait

„Es ist oft ein Ausnahmezustand, eine Krise, in die ich gerufen werde“

Krisenbewältigung gehört zum Berufsalltag von Gerda Wallner MA, die als Sozialarbeiterin im Blinden- und Sehbehindertenverband Wien, Niederösterreich und Burgenland tätig ist. Ob es einen Menschen von heute auf morgen trifft oder ob es schleichend kommt, immer ist der Verlust des Augenlichts ein sehr einschneidendes Ereignis, das die betroffene Person verunsichert und mit vielen Fragen zurücklässt. In dieser schwierigen Lebenssituation bietet der Blinden- und Sehbehindertenverband unverzichtbare Unterstützung und Hilfestellung.


Plötzlich blind

Bei einem jungen Mann Ende zwanzig wird ein Nierentumor festgestellt. Diese Erkrankung hat nicht nur zur Folge, dass er zum Dialysepatienten wird, sondern auch, dass er innerhalb von drei Monaten erblindet. Der Schwerkranke, der bei seiner Mutter lebt, verfügt über kein Einkommen. Es wurde zwar eine bedarfsorientierte Mindestsicherung beantragt, doch der Antrag wurde aufgrund eines fehlenden Dokumentes nicht fertig bearbeitet. Mutter und Sohn sind von der lebensbedrohlichen Krankheit und der Erblindung so sehr geschockt, dass sie nicht in der Lage sind, der Sache nachzugehen und sind gezwungen, von der Mindestpension der Mutter zu leben. Die beiden müssen nicht nur einen schweren Schicksalsschlag bewältigen, sie stehen auch vor einer existentiellen Bedrohung und wissen nicht mehr, wie sie für Miete, Strom, Heizkosten, Lebensmittel und alles Notwendige aufkommen sollen.

Diese Situation findet Gerda Wallner bei ihrem ersten Kontakt mit dem jungen Mann vor. Zunächst wird das Wichtigste und Dringendste erledigt. Es werden Anträge gestellt, damit der junge Mann das Pflegegeld und die bedarfsorientierte Mindestsicherung erhält. „Das war dann schon sehr entlastend“, erinnert sich die Sozialarbeiterin, „dass wieder Geld geflossen ist, dass die täglichen Rechnungen bezahlt werden konnten und die beiden wieder eine Perspektive hatten.“ Dann gilt es zu schauen, welche Hilfsmittel der junge Mann benötigt, wie sie finanziert werden können und welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind, wie zum Beispiel ein Mobilitätstraining oder das Wiedererlernen von lebenspraktischen Fähigkeiten.

Gerda Wallner hat ihr Büro im Louis Braille Haus in Wien, ist aber für ein großes Gebiet in Niederösterreich zuständig. Sie ist viel im Auto unterwegs, nach Amstetten, Lunz am See, Waidhofen an der Ybbs, St. Pölten, Gmünd oder Hollabrunn, um nur einige Orte zu nennen. „Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass der Blindenverband sich vier Sozialarbeiterinnen leistet, die die Mitglieder zuhause besuchen und beraten können.“ Eine Person, die sehbehindert oder gerade erblindet ist, ist verunsichert und in einer Krise. Längere Wege oder Fahrten nach Wien sind ein Kraftakt und mit Stress und Aufregung verbunden. Da bleibt oft nicht mehr genug Aufmerksamkeit und Energie für das Eigentliche, für das Beratungsgespräch. So haben die technisch gut ausgestatteten Sozialarbeiterinnen die Möglichkeit, ihre Mitglieder daheim zu besuchen, wo diese sich auskennen und viel entspannter sind. Bei den Hausbesuchen, die bis zu drei Stunden dauern können, werden wichtige Dinge erledigt wie Anträge gestellt und erforderliche Dokumente eingescannt. „Ich finde das großartig, ich kenne keine andere Organisation, die das so macht“, sagt Gerda Wallner.

Jeder, der über ein maximales Sehvermögen von 30 Prozent oder einen Visus von höchstens 0,3 verfügt, kann Mitglied beim Blinden- und Sehbehindertenverband werden. Eine Sozialarbeiterin  führt das Aufnahmegespräch und füllt zumeist das Einschreibeformular aus. Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt 55€.

Offen, einfühlsam und professionell

Bei den Beratungsterminen mit der Sozialarbeiterin werden nicht nur all jene Dinge geklärt, die einem Menschen mit einer hochgradigen Sehbehinderung rechtlich zustehen. „Man erfährt ja viel, wenn man die Anträge ausfüllt“, erzählt Gerda Wallner. „Das ist oft ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch.“

Viele seien sehr offen und froh, sich mit einer Person austauschen zu können, die außerhalb der Familie steht. Eine Erkrankung oder ein Unfall, der zu einer schweren Sehbehinderung führt, betrifft das gesamte Familiensystem. Die Angehörigen sind vielleicht wütend, traurig oder hilflos, weil dies passiert ist. Die betroffene Person sucht den Fehler möglicherweise bei sich und fühlt sich schuldig. Alle strengen sich an. Die Mutter, die erblindet ist, will den Kindern nicht zur Last fallen und hat ein schlechtes Gewissen, dass sie ihnen so viel Mühe macht. Der Sohn oder die Tochter wollen sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihnen die Sehbehinderung der Mutter zu schaffen macht. Von der Situation überfordert, behält jedes Familienmitglied seine Sorgen und Gedanken für sich. „Wenn ich sehe, wie schwierig es für diese erblindete Frau ist, dann sag‘ ich vielleicht, dass es anderen Mitgliedern ähnlich geht“, sagt Gerda Wallner. „Manchmal ist es schon entlastend zu wissen, dass andere in einer ähnlichen Lage sind.“

Einige würden sich oft lange Zeit bemühen, ihren schleichenden Sehverlust zu verbergen. „Es gibt dann halt so Tricks, wie sie sich über die Dinge drüber schummeln, weil sie es vor sich selber nicht zugeben wollen und vor den anderen schon gar nicht. Ich sitz‘ dann da, hör‘ zu und sag‘ : ‚Na, Sie wissen ja eh, wenn man so wenig sieht wie Sie, dann strengt man sich viel mehr an als die anderen. Dann ist man oft so müde. Es ist wichtig, dass Sie gut auf sich achten, dass Sie genügend Ruhephasen haben.“ Es seien diese einfachen Hinweise, die die Betroffenen oft ganz erleichtert aufatmen lassen. „Ich erzähle oft von anderen, ich habe ja so viele Beispiele. Ich merke gleich, wie gut es den Leuten tut, dies zu hören. Da ist schnell jedes Misstrauen weg. Da wird oft eine Schleuse geöffnet, sodass ich manchmal erst um sieben Uhr am Abend nach Hause komme.“

Manche reagieren jedoch sehr aggressiv. Andere haben überzogene Ansprüche und Forderungen. Sie finden, dass der Blindenverband für eine neue Wohnung mit Balkon zu sorgen hätte oder ihre hohen Schulden tilgen müsste. „Wir dürfen auch Nein sagen“, stellt die erfahrene Sozialarbeiterin klar. „Wir grenzen uns von den überzogenen Wünschen unserer Mitglieder ab.“

Gerda Wallner verfügt über eine reiche Berufserfahrung. Sie begann ihre Karriere bei der Caritas und arbeitete zehn Jahre in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Dann engagierte sie sich beruflich für die Wiedereingliederung behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt. Seit elf Jahren ist sie für den Blindenverband tätig. Sie, die sich als neugierig, interessiert und offen beschreibt, macht immer wieder berufsbegleitende Ausbildungen, so zuletzt den Master für Sozialpädagogik an der Fachhochschule in St. Pölten.

Aufgewachsen in einer kleinen burgenländischen Ortschaft mit festen Traditionen und klaren Regeln, wurde sie sich bald der engen Grenzen des Dorflebens bewusst. Dies habe vielleicht ihr großes Interesse an der Vielfalt menschlichen Seins gefördert. Ihre Mutter, eine ausgesprochen mitfühlende, hilfsbereite und freundliche Frau, habe sie geprägt. Schon früh habe sie gespürt, dass Menschen, denen es gut geht und die über viele Ressourcen verfügen, verpflichtet seien, andere zu unterstützen, die in ihrer Autonomie eingeschränkt sind.

Die studierte Sozialpädagogin schätzt es sehr, eigenverantwortlich und selbstbestimmt arbeiten zu können. Sie müsse sich nicht rechtfertigen, wenn sie bei einem Mitglied einmal drei Stunden bleibt und bald wieder dorthin kommt, weil neben der Erblindung auch persönliche Probleme wie eine Scheidung oder Alkoholabhängigkeit eine intensivere Begleitung und Beratung erforderlich machen. Die Arbeit sei abwechslungsreich und der monatliche Austausch mit den anderen Sozialarbeiterinnen in der Supervisionsgruppe erhellend und unterstützend.

Ungefähr 400 Mitglieder berät Gerda Wallner, die meisten von ihnen kennt sie persönlich. Wenn die Leute etwas brauchen, melden sie sich bei ihr. Oder die Sozialarbeiterin kontaktiert die Mitglieder von sich aus und fragt nach, ob etwas ansteht. Es kann aber auch sein, dass von einem Augenarzt oder aus einem Krankenhaus ein Anruf kommt, dass jemand aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls hochgradig sehbehindert geworden ist und Unterstützung benötigt. Dann wird Gerda Wallner von sich aus aktiv, nimmt telefonischen Kontakt auf und bietet ein Beratungsgespräch an.

„Ich seh‘ nichts mehr! Was soll ich tun? Wie kann es weitergehen?“ Mit diesen drängenden und verzweifelten Fragen treten die Betroffenen zunächst an die Sozialarbeiterin heran. „Es ist schon eine Freude, wenn ich sehe, dass ich für jemanden etwas erreicht habe und dass sich seine Situation wieder entspannt hat.“

Ein ganz großes Anliegen ist der Sozialpädagogin, dass Menschen mit einer Seheinschränkung die Möglichkeit haben, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. In Niederösterreich gibt es zurzeit vier Gruppen. In Wiesmath, in St. Pölten, Amstetten und Hollabrunn finden regelmäßig einmal im Monat Treffen statt. „Dieser Austausch auf Augenhöhe ist für die Betroffenen sehr entlastend. Er kann durch nichts ersetzt werden, er kann nur ergänzt werden“, ist Gerda Wallner überzeugt. Sie ist in Kontakt mit den Leiterinnen und Leitern der Gruppen und sorgt dafür, dass die schriftlichen Einladungen für die Treffen rechtzeitig ausgeschickt werden. Wenn eine Gruppe einen Ausflug plant, hilft sie bei der Organisation, fragt bei Busunternehmen an und vergleicht Preise.

Die Treffen finden in einem Cafe oder Gasthaus statt und der Blinden- und Sehbehindertenverband übernimmt das erste Getränk. Es sollen alle teilnehmen können, auch jene, die jeden Euro umdrehen müssen und sich einen Kaffee oder ein Bier kaum leisten können. Die Mitglieder können Erfahrungen und Informationen austauschen, sich Tipps geben und einander Mut machen. Vor allem aber ist es entlastend, mit Menschen zu reden, die wissen wovon man spricht.

Mag. Ursula Müller Jänner 2017