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Die Brailleschrift ist ein Wunderwerk

Interview mit Susanne Buchner-Sabathy

Frau Dr. Susanne Buchner-Sabathy ist Übersetzerin und nutzt die Punktschrift täglich – im Alltag, im Beruf und in der Freizeit. Obwohl sie sie erst spät erlernt hat, ist sie heute ein unverzichtbares Hilfsmittel für sie. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Brailleschrift haben wir mit ihr ein Interview geführt.

Frau Dr. Buchner-Sabathy, Lesen und Schreiben ist für Sie beinahe so wie Einatmen und Ausatmen. Sie haben schon als Kind leidenschaftlich gern gelesen, sind in einer Buchhändlerfamilie aufgewachsen, haben verschiedene Sprachen sowie Sprachwissenschaften studiert und arbeiten als Übersetzerin. Was Ihnen so große Freude macht war aber lange Zeit auch mit viel Mühe und Anstrengung verbunden. Aufgrund einer erblich bedingten Augenerkrankung war Ihr Sehvermögen bereits im Volksschulalter sehr eingeschränkt, Sie haben aber bis zur Matura Regelschulen besucht. Bei Ihrer Arbeit, sei es im Ausland oder dann in Wien, ist es immer um Sprache und Schrift gegangen, allerdings um Schwarzschrift.
 

Mit Ende dreißig hat sich mein Sehvermögen stark verschlechtert, ich hatte in dieser Zeit viele Augenoperationen und musste mit großem Widerwillen zur Kenntnis nehmen, dass ich mein Sehvermögen vollständig verlieren könnte. Rund um meinen 40. Geburtstag herum bin ich erblindet. In dieser schwierigen Übergangszeit habe ich Kontakt mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Wien, Niederösterreich und Burgenland (BSVWNB) aufgenommen, ein Mobilitätstraining begonnen und angefangen, mich mit der Brailleschrift zu beschäftigen.


Sie haben im BSVWNB einen Kurs in Brailleschrift absolviert. Über drei Jahrzehnte waren Sie es aber gewohnt, mit den Augen zu lesen. Jetzt mussten Sie sich auf ein neues System umstellen. Wie ist es Ihnen dabei ergangen? 

Es war eine große Herausforderung, es war etwas gänzlich Neues. Es ist körperlich ganz anders und es dauert natürlich, bis man sich die einzelnen Buchstaben einprägt. Es war mühsam, aber es war zugleich eine überwältigend gute Erfahrung, dass ich weiterhin lesen und schreiben kann. Mein Lehrer Franz Kvasnicka hat das sehr gut vermittelt, ich bin ihm noch jetzt, mehr als 20 Jahre später, dankbar für seinen Unterricht. Aber auch für sein Ohr und sein Verständnis. Er war in dieser für mich so schmerzlichen Übergangs- und Verlustphase der einzige blinde Mensch, mit dem ich reden konnte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die blind geboren wurden, diesen Verlust nur schwer nachvollziehen können und dass jene, die später erblindet sind, einen großen Schmerz mit sich tragen, und nicht gern daran erinnert werden. Mein Lehrer war eine Ausnahme. Er hat meine Gefühle ausgehalten und ich konnte ihn auch praktische Dinge fragen, wie ich zum Beispiel die Geldscheine auseinanderhalten kann. 

Sie waren fasziniert davon, welche Möglichkeiten diese Schrift, bestehend aus sechs Punkten, zu bieten hat.

Ich kann es nicht anders sagen, die Brailleschrift ist ein Wunderwerk, sie ist unglaublich schön und hat mich intellektuell und ästhetisch sehr berührt. Es ist ja das erste digitale Schriftsystem. Ein Braillezeichen besteht aus sechs Bits, und jedes Bit kann da sein oder nicht, wie in der digitalen Datenverarbeitung. Aber vor allem hat mir diese Schrift gezeigt, dass die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens für mich zugänglich bleibt. Dass also in einer Situation, in der sich so viele Türen schließen, sich auf einmal ein neues Tor weit öffnen kann. Dass ich etwas Wichtiges zwar nicht mehr auf die gewohnte Art tun kann, dafür aber auf eine andere. Das gilt für viele andere Dinge auch. Ich hatte vorher keinen Kontakt zur Community von blinden und sehbehinderten Menschen. In meiner Familie war zwar mein Vater sehbehindert, aber ich war in einer Regelschule. Ich kannte keine blinden oder sehbehinderten Menschen. Ich glaube, ich wollte das auch nicht, weil ich mich gefürchtet habe, zu sehen, was auch auf mich zukommen wird. Erst viel später habe ich im Blinden- und Sehbehindertenverband Menschen kennengelernt, die blind sind. Es war für mich wie eine Erleuchtung zu erleben, dass sie viele verschiedene Dinge machen können, dass sie vieles anders tun als ich es bisher gewohnt war und dass es funktioniert. Das war sehr inspirierend und motivierend für mich. Die erste Erfahrung dieser Art habe ich mit der Brailleschrift gemacht. Und ich habe das Erlernen der Brailleschrift als eine Quelle der Energie, der Befriedigung und Freude erlebt.

Worin besteht diese Freude?

Ich erinnere mich noch, wie sehr ich mich gefreut habe, wenn ich beim Tasten Buchstaben erkannt habe. Das sind schöne Erfolgserlebnisse. Das ist am Anfang gar nicht selbstverständlich, weil man noch nicht gut hingreift, nicht alle Punkte erspürt oder die Zeile verliert. Dann kommt der Zeitpunkt – das glaubt man nicht, aber es ist so – wo man auf einmal das Gefühl hat, dass das Zeichen unter dem Finger größer wird. Es ist, als würde man über den Buchstaben eine Lupe halten. Es verbessert sich offenbar die Tastfähigkeit mit der Übung. Es hat mich sehr bewegt, wie ich das erlebt habe.


Wie lange hat es gedauert, bis Sie die Brailleschrift flüssig lesen konnten?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Man muss zunächst das System lernen, also aus welchen Punkten bestehen die einzelnen Buchstaben wie das A, B, C und so weiter. Das ist ähnlich wie Vokabel lernen, das braucht einige Wochen, einige Monate. Bis ich aber dann die Buchstaben flüssig tasten konnte, hat es bei mir ungefähr ein Jahr gedauert. Ich habe anschließend noch die Kurzschrift erlernt, worüber ich sehr froh bin, denn die Kurzschrift wird in vielen Druckwerken verwendet. Also ich habe ein Jahr gebraucht, um mir die Basis Brailleschrift anzueignen. Ich habe regelmäßig geübt. Aber mein Lehrer hat mir gesagt, ich soll nur kurz üben, nur fünf Minuten am Tag, damit die Finger nicht zu sehr ermüden. Ich konnte mir das zunächst nicht vorstellen, aber es war so, es tut in der ersten Zeit auf den Fingerkuppen ein bisschen weh oder man haltet die Hände etwas verkrampft. Also kurz, aber regelmäßig üben hat sich bewährt.

Bei der sogenannten Basisschrift wird, abgesehen von einigen Buchstabenkombinationen, alles ausgeschrieben. Das braucht sehr viel Platz. Die sogenannte Kurzschrift ist viel platzsparender. 

Bei der Kurzschrift werden Zeichenkombinationen für Silben, Endungen oder ganze Wörter verwendet. Das heißt, wenn ich mir die Kurzschrift aneigne, muss ich noch einmal „Vokabel“ lernen. Es gibt ein zweibändiges Werk, es heißt Das System der deutschen Blindenschrift, man kann es wie ein Nachschlagewerk verwenden. Man findet verschiedene Buchstabenkombinationen und Positionen, denn ein Zeichen heißt in einer Position dies und in einer anderen Position heißt es etwas anderes. Die Brailleschrift ist ein sehr ausgeklügeltes System, ein sehr schönes System. Nach der Basisschrift noch die Kurzschrift zu lernen ist schon eine intellektuelle Herausforderung. Mein Lehrer hat immer gesagt, wenn ich geklagt habe: „Narrisch guat gegen Alzheimer.“ (Lacht) Aber für mich hat sich die Mühe gelohnt. Fast alle Bücher, die es in Brailleschrift gibt, sind in Kurzschrift abgefasst. Und ich lese nun einmal sehr gerne.

Die Brailleschrift ist in vielen Bereichen Ihres Lebens präsent.

In meiner Küche habe ich die verschiedenen Gewürze, Essig- oder Ölsorten mit Braille beschriftet. Im Badezimmer kennzeichne ich meine Kosmetika, am Schreibtisch verschiedene Gegenstände wie Kabel, die schwer auseinander zu halten sind. Beim Übersetzen verwende ich die Braillezeile, ebenso wenn ich meine Mails vor dem Abschicken noch einmal durchlese. Genauso bei online Meetings, wo es oft unangenehm ist, wenn man die Sprachausgabe mitlaufen lässt. Oder ich freue mich, wenn ich im Sommer im Dunkeln auf der Terrasse sitzen und lesen kann. Einen Autor wie Adalbert Stifter kann ich nicht als Hörbuch hören, das geht mir zu schnell, das lese ich nur in Brailleschrift, genauso wie Lyrik, ich will den Text in meinem Tempo lesen, das geht mit einem Hörbuch nicht. Ich höre viele Hörbücher oder Podcasts, aber lese auch gerne in Brailleschrift.


Sie spielen Klavier und befassen sich mit der Notenschrift in Braille. 

Ja, aber ich beherrsche die Notenschrift in Braille noch nicht so, wie ich es gerne möchte. Diese Notenschrift ist etwas ganz Eigenes. Ich nehme auch Klavierunterricht. Mein Lehrer spricht mir die Noten für die beiden Hände getrennt auf ein Diktafon auf. Aber es gibt interessante Notenliteratur in Brailleschrift und ich würde gern manches davon spielen, die Musik von Bach zum Beispiel, ich liebe Bach, aber diese Notenschrift ist sehr komplex.

Was waren für Sie die größten Hürden beim Erlernen der Brailleschrift und worin besteht für Sie der größte Vorteil, dieses Schriftsystem zu beherrschen?

Eine Hürde besteht darin, das Tasten einzusetzen, um die einzelnen Zeichen unterscheiden zu können. Also es geht darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie groß das Raster für ein Zeichen ist, zu ertasten, welcher Punkt noch zu diesem Zeichen gehört und welcher Punkt schon zum nächsten Zeichen. Es ist so, dass die Punkte innerhalb eines Zeichens etwas näher beisammen sind als die Punkte vom nächsten Zeichen, aber am Anfang ist es mir schwergefallen, dieses Schema ins Tastgefühl zu bekommen. Ich fand es auch sehr herausfordernd, händisch zu schreiben, also mit dem Stichel und der Schreibtafel, weil man in Spiegelschrift schreiben muss. Die Tafel besteht aus zwei Teilen, dazwischen liegt ein Blatt Papier. Die Punkte werden mit dem Stichel von hinten in das Papier gedrückt, wobei die Zeichen spiegelverkehrt und von rechts nach links geschrieben werden. Dann dreht man das Papier um und kann den Text lesen. Man muss für sich herausfinden, wie man das macht. Ich habe ein Bild vom jeweiligen Zeichen im Kopf und spiegle es dann, andere haben eine andere Art es zu machen. Schreiben zu lernen habe ich wirklich als große Herausforderung empfunden, aber ich wollte nicht nur Brailleschrift lesen, sondern auch schreiben können. Das hat mich beflügelt. Ich liebe diese Schrift und ich bewundere Louis Braille, dass er dieses schöne und wunderbare System geschaffen hat. Es ist ein großartiges Werkzeug für alle Lebenslagen. Lesen und schreiben zu können ist für mich eine unverzichtbare Kulturtechnik, und zwar unabhängig von der Sprachausgabe. Sie gibt mir beim Lesen eines Textes die eigene Stimme zurück. Wenn ich nur mit Sprachausgabe arbeite, habe ich immer diese synthetische Stimme im Ohr. Wenn ich einen Text in Brailleschrift lese, kann ich das mit meiner eigenen Stimme im Kopf machen.

Wenn man Ihnen zuhört, merkt man, dass es durchaus herausfordernd ist, sich die Brailleschrift anzueignen. Was könnte Menschen motivieren, sich dieser Herausforderung zu stellen?

Ich möchte Menschen dazu ermutigen, es zu probieren. Ich hatte in meinen Kursen Teilnehmer:innen im Alter von 16 bis 95 Jahren und alle haben es geschafft. Ich habe keinen einzigen Fall erlebt, wo jemand gesagt hat, ich breche den Kurs ab. Sie haben am Anfang gestöhnt und geklagt, wie ich auch, aber dieses Schriftsystem ist zugänglich und erlernbar, es eröffnet eine neue Welt und es ist sehr verbindend. Man kann alle Sprachen der Welt mit Brailleschrift schreiben, und bis heute wird dieses System weiterentwickelt. Ich finde das sehr bewegend. 


Vielen Dank für das Gespräch.


Mag. Ursula Müller September 2025

 

Das Jubiläum: 200 Jahre Brailleschrift