Mit 6 Punkten zu Bildung und Wissen

Interview mit Erich Schmid
Wer lesen und schreiben lernt, kann sich informieren, kann sich Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen oder mit Büchern in fremde Welten eintauchen. Als Louis Braille im Jahr 1825 die tastbare Blindenschrift entwickelte, eröffnete er blinden Menschen ganz neue Möglichkeiten. Aber wie ist es heute, 200 Jahre später? Brauchen blinde Kinder im digitalen Zeitalter noch die Brailleschrift? Wir haben Mag. Erich Schmid zum Gespräch getroffen.
Herr Mag. Schmid, Sie waren bis zu Ihrer Pensionierung als Lehrer am Bundesblindeninstitut (BBI) tätig. Schüler:innen erlernen am BBI die Brailleschrift, die aus sechs tastbaren Punkten besteht, wobei die sechs Punkte in zwei senkrechten Reihen zu je drei Punkten nebeneinander angeordnet sind. Bitte erklären Sie zunächst, wie aus den sechs Punkten Buchstaben werden.
Man kann das mit einem senkrecht stehenden Eierkarton für sechs Eier veranschaulichen. Die sechs Eier beziehungsweise die sechs Punkte nummerieren wir. Links oben ist Punkt eins, darunter Punkt zwei, darunter Punkt drei. Rechts oben ist Punkt vier, darunter fünf und unten rechts ist Punkt sechs. Die Buchstaben der Blindenschrift entstehen aus Kombinationen dieser Punkte. Wenn Punkt eins alleine steht, ist das ein „A“. Punkt eins und zwei ergeben ein „B“ und so weiter. Also aus diesen Punktkombinationen entstehen alle Buchstaben, aber auch andere Zeichen, die wir benötigen. Ähnlich ist es mit den Zahlen. Für die Ziffern eins bis null verwenden wir die Buchstaben „A“ bis „J“. Damit klar ist, dass es sich um Zahlen handelt, setzen wir vor die erste Ziffer noch ein sogenanntes Zahlenzeichen. So wissen wir, dass jetzt Zahlen kommen.

Das klingt ganz schön kompliziert. Wie lernen Kinder, die blind oder stark sehbehindert sind, Lesen und Schreiben?
Das ist unterschiedlich, auch an einer Spezialschule wie dem BBI gibt es keine einheitliche Vorgangsweise. Heute sind die Klassen viel gemischter als zu meiner Schulzeit. Kinder, die blind sind, erlernen in der Regel die Brailleschrift. Andere, die noch ein bestimmtes Sehvermögen haben, eignen sich die Schwarzschrift an. So nennen wir die Schrift, die sehende Menschen verwenden. Diese Schüler:innen benutzen beim Lesen Hilfsmittel zum Vergrößern und schreiben in Hefte mit verstärkten Linien. Dann ist vielleicht noch ein Kind in der Klasse, das einen Röhrenblick hat, es sieht gut aufs Blatt, aber nicht was links und rechts geschieht. Also die Lehrer:innen sind extrem gefordert.
Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie lesen und schreiben gelernt haben? Sie sind blind geboren, in Wolkersdorf in Niederösterreich aufgewachsen und haben am BBI in Wien die Volks- und Hauptschule besucht.
Ich bin 1960 in die erste Klasse gekommen. Damals ist man beim Lesenlernen auf die Eigenheiten der Brailleschrift eingegangen. Sehende Kinder lernen zuerst das „O“, das „I“ oder das „M“. Bei uns war das anders. Wir haben zunächst nur Zeichen gelernt, die die linke senkrechte Punktreihe betreffen. Also das „A“, dann das „B“. Heute macht man das nicht mehr so, weil die Schüler:innen in den Inklusionsklassen andere Buchstabenreihenfolgen lernen. Ein blindes Volksschulkind lernt heute auch zuerst die Buchstaben, die sehende Kinder lernen.
Und wie haben Sie Schreiben gelernt?
Das Schreiben war eine furchtbare Geschichte. Es gab damals die sogenannte Schreibtafel. Aber das ist keine Tafel wie sie in Schulen hängt, wo man mit Kreide drauf schreibt. Es ist ein Gerät, mit dem man schreiben kann, indem man die Buchstaben seitenverkehrt, also von rechts nach links, Punkt für Punkt mit einem Griffel in ein Papier sticht. Es war schwierig, man durfte nicht Legastheniker:in sein und man durfte sich nicht verschreiben, denn es ließ sich nicht mehr korrigieren. Heute werden diese Punktschrifttafeln nicht mehr verwendet. Heute erlernen die Kinder das Schreiben auf einer Braille Schreibmaschine.
Bei dieser Braille Schreibmaschine ist jedem Punkt eine Taste zugeordnet. Beim Schreiben eines Buchstabens drückt man jene Tasten gleichzeitig, die man braucht, um ein bestimmtes Zeichen herzustellen. Welche Vorteile hat die Braille Schreibmaschine verglichen mit dieser Schreibtafel, die blinde Kinder früher benutzten?
Man schreibt von links nach rechts, man ist wesentlich schneller und man verschreibt sich auch seltener. Außerdem stanzt die Braille Schreibmaschine die Punkte von unten nach oben durch, ich kann also mit den Fingern sofort fühlen, was ich geschrieben habe.

Verwenden Sie eine Braille Schreibmaschine und wenn ja, wofür?
Ja, für verschiedene Dinge. Ich bin Kantor, ich singe also regelmäßig Psalmen oder andere Lieder in der Kirche. Den Text und die Noten dafür schreibe ich mit meiner Braille Schreibmaschine auf ein Blatt Papier auf. Oder wenn ich mir Notizen für einen Vortrag mache, verwende ich postkartengroße Zettel und schreibe mir Stichwörter auf. Außerdem beschrifte ich damit Klebebänder, sogenannte Dymo Bänder. So kann ich meine CDs oder Gewürzdosen etikettieren. Und wie gesagt, mit so einer Punktschriftmaschine erlernen die Kinder auch heute noch die Brailleschrift.
Sie haben die Notenschrift erwähnt. Das System der Blindenschrift kann also nicht nur Schriftzeichen, sondern auch Symbole wie Noten abbilden.
Ja, Louis Braille hat auch eine Notenschrift entwickelt. Blinde Menschen können sich also Musikstücke erschließen. Inzwischen gibt es weitere Schriften für mathematische Zeichen, für chemische Formeln, für fremde Alphabete, für Schach oder für Strickmuster zum Beispiel. Die blinden Schüler:innen müssen also lernen, welche Punktkombination für welche mathematische oder chemische Formel steht. Es gibt auch eine Stenografieschrift, ich verwende sie nach wie vor, weil es schneller geht, aber sie spielt kaum noch eine Rolle, denn heutzutage werden in den Büros keine Stenogramme mehr gemacht. Aber man ist, wie gesagt, viel schneller als mit der Voll- und der Kurzschrift.
Bei der Brailleschrift unterscheidet man also zwischen Voll- und Kurzschrift. Und der Vollständigkeit halber ist auch noch zu sagen, dass es auch eine Basisschrift gibt. Wodurch unterscheiden sich Basis-, Voll- und Kurzschrift?
Bei der Basisschrift, die die Kinder zu Beginn der Volksschulzeit erlernen, werden alle Buchstaben ausgeschrieben. Beim Wort „Haus“ werden also vier Buchstaben verwendet. Bei der Vollschrift wird fast jedes Wort ausgeschrieben, aber bei einem Wort wie „Haus“ wird das „au“ nur mit einem Zeichen geschrieben. Es wird also fast alles ausgeschrieben. Das bedeutet, dass man für die Texte viel Platz und für das Lesen viel Zeit braucht. So wurde die Kurzschrift entwickelt. Sie verkürzt Wörter. Wenn ein Buchstabe alleine steht, wenn also zum Beispiel links und rechts von einem „B“ ein Leerzeichen ist, dann steht dieses „B“ für ein Wort, und zwar für „bei“. Und so gibt es weitere Methoden, Wörter zu verkürzen. Das ist so festgelegt und wenn die Schüler:innen die Kurzschrift erlernen, müssen sie sich die Regeln für die verschiedenen Abkürzungen einprägen. Auf diese Weise kann man schneller lesen und schreiben. Ein blindes Kind lernt in der Volksschule zunächst die Basis- und die Vollschrift, und im Alter von ungefähr zehn Jahren die Kurzschrift.
Die Brailleschrift ist eine taktile, also eine tastbare Punktschrift. Die Schriftzeichen sind aus kleinen, erhabenen Punkten zusammengesetzt und werden von der Rückseite aus in das Papier gedrückt. Die Buchstaben aus Punkten werden mit den Fingern ertastet und so können Texte und Bücher gelesen werden.
In der Regel verwendet man beide Hände zum Lesen der Brailleschrift. Das Lesen erfordert eine koordinierte Bewegung der beiden Hände, wenn man schnell sein will. Man liest mit den beiden Zeigefingern. Ideal ist, wenn auch noch der Mittelfinger und im besten Fall auch noch der Ringfinger beteiligt sind, aber das schaffen nur die allerwenigsten. Ich war in der Volksschule beim Lesen so schnell, obwohl ich nur den linken Zeigefinger verwendet habe, dass mein Lehrer damit zufrieden war und mich nicht gedrängt hat, beide Zeigefinger zu verwenden. Heute bedauere ich das.

Wie lang braucht ein Kind, bis es die Brailleschrift relativ flüssig lesen und schreiben kann?
Das blinde Kind wird das sehende Kind nie einholen. Es wird beim Lesen immer langsamer sein. Das sehende Kind hat den Überblick. Das blinde Kind hat immer nur ein Zeichen unter dem Finger. Das ist leider ein Nachteil. Deshalb hat man die Kurzschrift für Blinde entwickelt, dadurch hat der Finger weniger Zeichen zu überstreichen. Hinzu kommt, dass sehende Kinder überall mit Schriftzeichen konfrontiert sind, sie sehen Aufschriften, fragen nach und manche bringen sich auf diese Art das Lesen sogar selbst bei. Das ist blinden Kindern nicht möglich. Sie müssen sich viel mehr mit ihrer Schrift beschäftigen als sehende Kinder. Es gibt blinde Kinder, die am Ende der zweiten Volksschulklasse gut lesen und schreiben können, andere brauchen länger, das ist von Kind zu Kind verschieden.
Blinde und stark sehbehinderte Schüler:innen am BBI und in den Inklusionsklassen fangen in der Regel ab der dritten Volksschulklasse an, am Computer zu arbeiten. Sie steigen langsam von der Braille Schreibmaschine auf den PC um, und verwenden die beiden Geräte teilweise parallel. Wie aber arbeiten sie am PC?
Am Computer wird eine Braillezeile verwendet. Dieses Gerät übersetzt mit einer speziellen Software den Text, der auf dem Bildschirm aufscheint, in Punktschrift, die auf der Braillezeile ertastet wird. Um eine Braillezeile verwenden zu können, muss man also die Brailleschrift beherrschen. Man kann sich den Text aber auch vorlesen lassen, das funktioniert über eine sogenannte Screenreader Software. Wenn die blinden Schulkinder von der Schreibmaschine auf den PC mit Braillezeile umsteigen, müssen sie sich wieder ein neues System aneignen. Ab der ersten Volksschule leben sie also mit verschiedenen „codes“, die parallel verwendet werden, so würde ich es als ehemaliger Informatiklehrer ausdrücken. Was meine ich mit Kodierung? Jedes blinde Kind muss mehrere Systeme, mehrere Kodierungstabellen kennenlernen. Es lernt zunächst die Basis-, dann die Voll- und schließlich die Kurzschrift. Am PC mit Braillezeile lernt es wieder ein neues System kennen. Später dann für die Fächer Mathematik, Physik, Chemie oder für Fremdsprachen. Die Braille Schrift ist weltweit einheitlich, aber es gibt für die einzelnen Länder gewisse Bedürfnisse, die berücksichtigt werden müssen.
Ist es heute noch erforderlich, die Brailleschrift zu erlernen, wenn ich als blinde Person einen Computer oder ein Smartphone mit Sprachausgabe verwenden kann?
Die Sprachausgabe, das muss man sagen, ist eine ganz wichtige Hilfe. Es gibt blinde Leute, die kaum oder gar nicht mehr die Brailleschrift erlernen, weil ihnen die Sprachausgabe genügt. Also, die Sprachausgabe ist gut, ich verwende sie viel, zum Beispiel um E-Mails zu lesen, man hört den Betreff und kennt sich schon aus. Das ist sehr praktisch. Aber ich kann damit nicht alles machen.
Wo brauchen Sie die Brailleschrift, wo reicht die Sprachausgabe nicht aus?
Wenn ich einen Text auf Groß- und Kleinschreibung korrigieren möchte. Wenn ich Werke in anderen Sprachen lese, ist es oft schwer, der Sprachausgabe zu folgen, ich lese den Text dann parallel auf der Braillezeile mit. Oder wenn es um Mathematik geht. Ich habe ein Faible für mathematische Rätsel, das funktioniert mit Sprachausgabe kaum oder gar nicht. Außerdem brauche ich die Brailleschrift für das Notenlesen, wenn ich mir Notizen auf einem Blatt Papier machen oder ein Buch lesen will. Und die Brailleschrift war für mich in meiner Aus- und Weiterbildung von allergrößter Bedeutung.
Und wie ist das heute? Welchen Stellenwert nimmt die Brailleschrift ein, wenn es um die Ausbildung eines blinden Kindes geht?
Die Brailleschrift sollte den höchsten Stellenwert haben im Vergleich zu anderen Kommunikationssystemen wie Hörbücher und Sprachausgabe. Das ist leider nicht immer so. Die Angebote sind heute sehr vielfältig und ich kann einem blinden Kind ja auch nicht sagen, dass es bis zu seinem zehnten oder zwölften Lebensjahr kein Hörbuch hören oder keine Sprachausgabe verwenden darf. Das geht nicht und das wäre auch nicht sinnvoll. Wir können heute nur versuchen, unsere blinden und stark sehbehinderten Kinder möglichst umfassend zu bilden und ihnen die Brailleschrift möglichst gut zu vermitteln, denn eine Schrift zu beherrschen, eröffnet Möglichkeiten, die weit über den Wissenserwerb hinausgehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mag. Ursula Müller März 2025