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Die Magie der Schrift

Was wüssten wir wohl über die Geschichte unserer Welt, wenn wir keine Schrift hätten?

Das älteste Schriftsystem ist die Keilschrift der Sumerer und über 5000 Jahre alt, gefolgt von den Hieroglyphen der Ägypter. Auch in China entstanden bereits während der Shang-Dynastie (ca. 1600-1046 v. Chr.) die Orakelknochen-Inschriften. Bis in die Neuzeit war Lesen und Schreiben jedoch vorwiegend dem Klerus und der Oberschicht vorbehalten. Erst nach und nach wurde nach Erfindung des Buchdrucks Gedrucktes auch der breiten Masse zugänglich.

Blinde Menschen mussten noch länger warten. Zwar gab es immer wieder Versuche, Schrift- und Bildzeichen tastbar zu machen; aber Lesen und vor allem Schreiben blieb eine mühsame Angelegenheit und daher wenig erfolgreich – bis ein gerade mal 15-jähriger blinder Franzose vor 200 Jahren ein System aus in Papier geprägten Punkten erfand, das mit den Fingerkuppen gut erfasst und vergleichsweise einfach geschrieben ("gestochen") werden konnte. Galten blinde Menschen früher oft als bildungsunfähig, begann mit dem Siegeszug der Blindenschrift (= Punktschrift oder Brailleschrift) eine echte Teilhabe am Bildungssystem. Bücher wurden gedruckt, Texte im Unterricht verteilt und Aufgaben geschrieben – Schule, wie wir sie kennen.

Zwischen Euphorie und Skepsis

Neben Akzeptanz gab es aber auch viel Skepsis und sogar heftige Ablehnung. Während die blinden Schüler:innen begeistert ihren Wissensdurst stillten, hatten etliche Pädagog:innen Sorge, die Brailleschrift könnte zur Isolation blinder Menschen führen. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Erst durch ein Schriftsystem, das leicht gelesen und geschrieben werden kann, begann ein Prozess der Integration und Inklusion in das Bildungswesen.

Ein Teil der Skepsis ist auch heute im Computerzeitalter zu spüren, wenn auch aus völlig anderen Gründen als vor 200 Jahren. 

Es ist eine Tatsache, dass nur ein relativ geringer Prozentsatz blinder Menschen die Brailleschrift gut genug beherrscht, um in dieser Schrift zu kommunizieren und zu denken. Das liegt an verschiedenen Gegebenheiten:

Viele sind nicht von Geburt an blind oder stark sehbehindert, sondern erblinden im Laufe des Lebens – und das meist wenn die Basisausbildung bereits abgeschlossen ist, oder sogar erst im Rentenalter. Diese Personengruppe denkt im "normalen" Schriftsystem, um sich komplexe Wörter vorzustellen und einzuprägen. Die Brailleschrift zu erlernen setzt im wahrsten Sinn Fingerspitzengefühl voraus und die Fingerkuppen dürfen auch nicht durch Krankheit (etwa Diabetes) oder die Berufsausübung (Maurer) beeinträchtigt sein.

Andere verfügen noch über einen minimalen Sehrest und können mit entsprechenden Hilfsmitteln weiterhin optisch arbeiten, wenn auch eingeschränkt. Nicht zu vergessen, dass durch moderne Hilfstechnologien wie Screen Reader der Bildschirminhalt des Computers auch mittels Vergrößerung und/oder Sprachausgabe wiedergegeben werden kann.

In beiden Fällen nimmt die Brailleschrift verständlicherweise eine untergeordnete Rolle ein, da ja bereits eine Schrift existiert, die entweder noch optisch oder aber akustisch genutzt werden kann.

Und last but not least darf man nicht vergessen, dass der Wissenserwerb in späteren Jahren deutlich schwieriger ist. Kinder lernen eben leichter. Man denke nur an den Erwerb einer Sprache. Wer zweisprachig aufwächst, hat eindeutig die Nase vorn. Und darum ist das Erlernen der Braille-Schrift sowohl was Lesen als auch das Schreiben betrifft, mit gewissen Hürden und Anstrengungen verbunden.

Viele blinde Personen benötigen die Brailleschrift daher gar nicht oder nur gelegentlich.

Mein persönliches Plädoyer für die Brailleschrift

Ich habe die Brailleschrift mit Schuleintritt gelernt und seither immer angewendet. Ein A ist in meinem Kopf ein einzelner Punkt auf Papier - auch wenn ich genau weiß, wie ein kleines oder großes A in Druckschrift oder Schreibschrift aussieht. Ich denke in Punktmustern und sehe ganze Wörter auf diese Weise.

Ich liebe meine Welt der Buchstaben und Zeichen, bestehend aus vielen kleinen Pünktchen. 

Ich habe gelernt, mit sechs Fingern gleichzeitig zu lesen, kann also nicht nur ein Zeichen nach dem anderen, sondern ganze Wörter gleichzeitig erfassen. Beim Lesen auf Papier liest eine Hand voraus, die andere kontrolliert hinterher.

Natürlich nutze ich auch Audiodateien wie Podcasts und selbstverständlich die Sprachausgabe am Computer, weil es sehr umständlich wäre, die Finger immer von der Tastatur nehmen zu müssen, um das Geschriebene oder einen Menüeintrag zu lesen. Und wie sollte ich wohl mein Smartphone ohne Sprachausgabe nutzen können, das für mich zum unentbehrlichen "Werkzeugkasten" geworden ist? Ich bin für diese Erleichterung unendlich dankbar!

Aber bereits dann, wenn es um die Korrektur eines Textes oder Aneignung von Wissen geht, brauche ich "meine" Schrift. Ich benötige das Bild im Kopf beim Einprägen neuer Wörter oder komplexen Eigennamen (wie Andrzej Szczypiorski). Ich muss Vokabeln lesen und schreiben, um sie zu behalten; bloßes Hören reicht mir nicht. Blind oder nicht: Ich bin kein auditiver Typ. Das musste ich schon feststellen, als ich im 2. Bildungsweg die Matura nachgeholt hatte.

Und die Schrift brauche ich erst recht, wenn es um mein Lesevergnügen geht: Ich mag in völliger Stille lesen, damit sich die Bilder frei entfalten können. Ich möchte die handelnden Personen in meinem Kopf sprechen hören und meiner Fantasie freien Lauf lassen. Ich liebe die Bewegung meiner Finger über Papier oder Braille-Zeile, weil mir die Haptik ein zusätzliches Vergnügen bereitet. Ich mag es, in einem Buch auf Papier vorwärts zu blättern, um zu erfahren, ob die Zeit noch für das angefangene Kapitel reicht ...

Mein Alltag würde auch ohne Brailleschrift noch funktionieren, aber er wäre um einiges ärmer, wenn ich auf dieses herrliche Geschenk von Louis Braille verzichten müsste!

 

von Eva Papst Frühjahr 2025