Brailleschrift lernen - ist das was für mich?

Chancen nützen, berufliche Herausforderungen annehmen
Wenn sich das Leben verändert …
Wir lernen gehen, wir lernen sprechen, wir lernen viele notwendige Fertigkeiten für den Alltag. Im Schulalter schließlich lernen wir Schreiben und Lesen.
Und, wenn das Leben nicht etwas anderes vorgesehen hat, tragen uns diese Fähigkeiten zumeist gut durch das Leben.
Was aber, wenn manchmal schleichend und manchmal plötzlich eine Sehbehinderung oder auch Blindheit Teil des Lebens wird? Wenn sich vieles verändert und Herangehensweisen und Verhaltensweisen geändert und auch teilweise neu erlernt werden müssen?
Und hier kommen wir um das Thema Schreiben und Lesen nicht umhin.
Es wird mühsam oder klappt auf herkömmliche Weise gar nicht.
Aber, aufgegeben wird bestenfalls ein Brief, so wird das oftmals formuliert. Und das ist hier keinesfalls despektierlich gemeint, sondern soll vielmehr ermutigen, Möglichkeiten und Wege für Lösungen zu suchen und zu finden.
Und "wer suchet, der findet".
Wie soll es weitergehen?
Erfindungsreichtum hat die Menschheit oft, aber leider nicht immer, zum Positiven verändert.
Wir wollen hier beim Positiven bleiben!
Aus eigener Betroffenheit heraus hat vor nunmehr 200 Jahren ein junger blinder Mann die Brailleschrift entwickelt.
Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens ist seither Menschen mit Blindheit oder starker Sehbehinderung zugänglich.
Und so, wie eine neue Sprache oder Sportart, kann das Lesen und Schreiben dieser Schriftart auch noch im Erwachsenenalter erlernt werden.
Kursangebote von Selbsthilfeorganisationen oder Reha-Einrichtungen: Wie soll das funktionieren?
Natürlich sind die Voraussetzungen zum Erlernen der Brailleschrift im Erwachsenenalter sehr unterschiedlich – und es liegt auch auf der Hand, dass es im Kindesalter leichter fällt.
Im Laufe des Lebens verändert sich die Feinmotorik, und die "Festplatte", sprich unsere Merkfähigkeit, hat nicht mehr so viele Kapazitäten zum Abspeichern von beispielsweise Punktkombinationen der Brailleschrift.
Es kann sein, dass handwerkliche Arbeit oder vielleicht auch eine Diabetes-Erkrankung die Tastfähigkeit vermindert.
Die Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit über die Fingerkuppen ist jedoch besonders wichtig, muss also entsprechend trainiert werden.
Denn hier werden die erhabenen Punkte am besten ertastet.
In den meisten Fällen ist dies die größte Herausforderung und bedarf eines gewissen Trainingsaufwandes. Ein Vergleich mit Sport ist daher naheliegend.
Deshalb die Devise: Regelmäßig trainieren und dranbleiben!
Und dies auch dann, wenn es zwischendurch langwierig oder mühsam erscheint. Denn, solche Phasen bleiben nicht aus.
Aber, sobald sich die ersten Lese-Erfolge einstellen, steigt die Motivation.
Langsam, Punkt für Punkt, Buchstabe für Buchstabe werden Wörter zusammengefügt, können die ersten Wörter entziffert werden.
Diese "aha-Momente" konnte ich bei meiner Tätigkeit der Vermittlung der Brailleschrift bei sehr vielen Kursteilnehmer:innen erleben. "Plötzlich bekommt das Kribbeln an den Fingerkuppen und diese eigenartigen, erhabenen Punkte eine Bedeutung", so eine meiner Kursteilnehmerinnen.
Und am Ende eines Kurses eröffnet das taktile Lesen neue Perspektiven. "Ich fühle mich nicht mehr wie ein Analphabet", so ein weiterer Kursteilnehmer in der letzten Kurseinheit.
Und ab nun steht den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten nichts mehr im Wege.

Lohnt sich der Aufwand?
Sollte sich nun die eine oder der andere diese Frage stellen – hier mögliche Einsatzbereiche für mehr Selbstbestimmung, formuliert von Menschen, die Brailleschrift im Erwachsenenalter gelernt haben:
"Ich konnte bis zum 30. Lebensjahr mit Lesegerät und Lupe lesen. Als das nur mehr buchstabenweise möglich war, kam die Motivation, die Brailleschrift zu lernen. Das hat mir viel Selbstständigkeit zurückgegeben.“
"Ich habe alle meine CDs, meine Gewürzgläser und meine Dokumente beschriftet. Beim Lesen von Büchern bin ich mangels Übung langsam und bevorzuge deshalb Hörbücher."
"Ich habe den Schritt, die Brailleschrift zu lernen viel zu lang hinausgezögert. Ich hab zu der Zeit sehr darunter gelitten, dass ich den Zugang zu gedruckten Büchern und Zeitschriften verloren habe."
"Die Brailleschrift hat mir – anders als digitale Inhalte oder Hörbücher – auch wieder einen haptischen Zugang geboten, den Kontakt mit Papier und die Möglichkeit, das, was ich lese, mit meiner eigenen Stimme im Kopf wahrzunehmen."
"Ich nutze die Brailleschrift für das Markieren von Lebensmitteln, Gewürzen, Kosmetika, CDs oder Samentütchen."
"Die Brailleschrift nutze ich für meine Notizen beziehungsweise um auf einem eigenen Braille Organizer zu schreiben."
"Ich höre schon Hörbücher, aber ich lese auch sehr gerne Bücher oder Gedichte in Braille. Besonders toll finde ich, dass ich um Weihnachten herum gemütlich bei Kerzenschein lesen kann oder im Sommer abends und nachts am Balkon. Das konnte ich nicht, als ich noch mit Lupe gelesen habe."
… so verändert sich das Leben.
von Margarete Waba Frühjahr 2025