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Portraits

Eine lachende Frau mit schulterlangen dunklen Haaren und Brille auf einer Parkbank. Über einem roten Kleid trägt sie eine dunkle Strickweste, am linken Arm eine gelbe Schleife. In der rechten Hand ein Weißer Stock.
Bildinfo: Dr.in Francesca Mazzilli bietet im BSVWNB Sprachkurse speziell für blinde und sehbehinderte Menschen an. Die gebürtige Italienerin ist selbst sehbehindert. © BSVWNB/Ursula Müller

„Diese Begegnung hat mir die Augen geöffnet.“

Dr.in Francesca Mazzilli ist seit gut zehn Jahren als Sprachlehrerin tätig. Die gebürtige Italienerin bietet im Louis Braille Haus im Blinden- und Sehbehindertenverband einen Italienischkurs an. Wir haben die promovierte Germanistin zum Gespräch getroffen.

Francesca Mazzilli im Interview

Frau Dr. Mazzilli, Sie haben in Italien Deutsch unterrichtet und in Österreich sind Sie seit dem Jahr 2020 als Italienischlehrerin tätig. Sie haben in Schulen als Sprachassistentin und in Kursen für Menschen, die in Österreich um Asyl ansuchen gearbeitet und sind jetzt auch am Sprachenzentrum der Universität Wien tätig. In Ihren Kursen sind also fast ausschließlich sehende Schüler:innen. Wie unterscheidet sich Ihr Kursangebot für den BSVWNB, wie gehen Sie im Unterricht für blinde und sehbehinderte Menschen vor?

Die Kursteilnehmer:innen haben unterschiedliche Sehbehinderungen, nutzen unterschiedliche Hilfsmittel und verfügen über unterschiedliche Kenntnisse in Brailleschrift. Wir haben also am Anfang darüber gesprochen, ob wir Kursunterlagen verwenden sollen und haben uns dagegen entschieden. Ich motiviere sie aber, barrierefreie Lernunterlagen zu verwenden, es gibt allerdings nicht sehr viele, aber doch einige. In unserem Kurs wird also vor allem gesprochen und zugehört. Wir machen auch Lern- und Sprachspiele, alles auf Italienisch natürlich. Wichtig ist mir, auch die anderen Sinne anzusprechen.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass die Kursteilnehmer:innen nicht nur hören und sprechen? Können Sie ein Beispiel geben?

Ich beziehe auch die olfaktorische Dimension in den Unterricht mit ein. Als wir die Vergangenheitsformen im Italienischen wiederholt haben, habe ich Gläser mit Gewürzen, Kräutern und Samen mitgebracht. Jede Person hat ein Glas bekommen und daran gerochen. Dann hat sie erzählt, woran der Geruch sie erinnert. Eine Kursteilnehmerin hatte Kaffeebohnen im Glas und gemeint: „Das erinnert mich daran, wie ich auf meiner ersten Italienreise mit 18 Jahren meinen ersten Espresso getrunken habe. Er hat mir überhaupt nicht geschmeckt, es war mein erster Kaffee ohne Zucker.“ (Lacht) Ein anderes Mal haben wir Adjektive durchgenommen und ich habe einige Gegenstände wie einen Kamm, eine Gabel oder einen Schöpfer mitgebracht und durch Fragen mussten die Teilnehmer:innen draufkommen, worum es sich handelt. Also ist der Gegenstand lang, spitz oder dünn, brauche ich ihn in der Küche oder am Schreibtisch? Das geht natürlich nicht in jeder Kurseinheit, aber es liegt mir am Herzen, alle unsere Sinne einzubeziehen und die Kursteilnehmer:innen schätzen das sehr. Wir hören auch viel Musik, beschäftigen uns mit den Texten, lernen diese auswendig und singen gemeinsam. Es ist eine tolle, sehr motivierte Gruppe.

Sie sind in Süditalien aufgewachsen, in Corato, einer Stadt in der Nähe von Bari. In Bari haben Sie die Universität besucht, Deutsch und Neugriechisch studiert und sich im Laufe des Studiums ganz auf die deutsche Sprache konzentriert. Schon während Ihres Studiums haben Sie Deutsch unterrichtet und sind dann nach Ihrer Promotion nach Wien gekommen.

Ich wollte unbedingt wieder in ein Land gehen, wo Deutsch gesprochen wird. Ich war davor schon für Sprachkurse in München, und Wien kannte ich von einem Besuch. Wien hat mir gut gefallen und so habe ich mich als Sprachassistentin beworben. Es hat geklappt und ich habe an zwei Wiener Schulen als Sprachassistentin gearbeitet. Am Ende des Programms, also am Ende des Schuljahres habe ich mich entschieden, hier zu bleiben. Ich mag die Stadt und mein Leben hier. Ich habe in Wien meinen Partner kennengelernt, er ist Italiener, kommt wie ich aus dem Süden Italiens, aber aus Sizilien. Zuhause hatte ich neben meinen engen italienischen Freund:innen mit vielen Leuten aus Österreich und Deutschland zu tun. Und in Wien verliebe ich mich ausgerechnet in einen Italiener. (Lacht) Ich lebe auch deshalb so gerne in Wien, weil ich es sehr schätze, wie man hier mit Menschen mit Behinderungen umgeht. Ich spreche aus eigener Erfahrung, da ich ja selbst eine Sehbehinderung habe.


Wodurch unterscheidet sich der Umgang? Leben blinde oder sehbehinderte Menschen in Wien anders als in Corato, wo Sie aufgewachsen sind?

Corato ist eine nette Stadt mit rund 50 000 Einwohner:innen, aber dort habe ich überhaupt keine Menschen mit Sehbehinderung getroffen. Der einzige sehbehinderte Mensch, den ich bis zu meinem 20. Lebensjahr kennengelernt habe, ist mein Bruder. Er hat, wie ich, eine erblich bedingte Netzhauterkrankung. Ich bin, was das Sehen betrifft, sehr stark eingeschränkt. Ich habe noch einen anderen Bruder, er ist der älteste von uns, und er sieht normal. In Italien gehen die Kinder, ob behindert oder nicht behindert, üblicherweise in die Regelschule. An meiner Schule hat es aber keine anderen sehbehinderten Schüler:innen gegeben. Meine Lehrer:innen hatten keine Erfahrung mit sehbehinderten Kindern. Sie waren nicht in der Lage, auf meine Sehbehinderung einzugehen und es hat keine blindenspezifische Unterstützung gegeben. Als ich ein Schulkind war, ist mir kein Lesegerät zur Verfügung gestanden. Es war für mich in der Schule sehr schwer und ich musste mich sehr anstrengen. Meine Eltern haben meinen Bruder und mich sehr unterstützt und uns immer alles vorgelesen. Meine Familie hat alles Erdenkliche getan, vieles, was eigentlich die Institution hätten tun sollen. Ich hoffe, dass das heute besser funktioniert.

Ihre Schul- und Ausbildungszeit liegt ja nicht lange zurück. Sie sind Anfang dreißig und sind Ende der 1990er Jahre in die Schule gekommen und haben im Jahr 2020 Ihr Studium abgeschlossen. Woran liegt es, dass Menschen mit einer Sehbehinderung so unzureichend unterstützt werden?  

Corato, meine Heimatstadt ist keine Kleinstadt, aber es herrscht eine Kleinstadtmentalität. Die allermeisten Menschen, die eine Sehbehinderung oder eine andere Behinderung haben, sind praktisch nur zuhause, sind unsichtbar. Oder sie sprechen nicht darüber, dass sie eine Behinderung haben. Und so denken die Leute wahrscheinlich noch immer, dass wir gar nicht existieren.

Wie aber haben Sie es geschafft, das Gymnasium zu absolvieren und erfolgreich zu studieren?

Meine Familie würde sagen, das liege daran, weil ich extrem stur sei. (Lacht) Ich habe mir gedacht, ich will das machen. Ich habe ein humanistisches Gymnasium besucht, wir haben also Griechisch und Latein gelernt, ich habe mich zu diesen alten Sprachen sehr hingezogen gefühlt. Ich war schon 16 oder 17 Jahre alt, als ich mein erstes Smartphone bekommen habe, das habe ich dann benutzt, um meine Texte zu vergrößern. Und gegen Ende meiner Schulzeit habe ich dann endlich ein Lesegerät erhalten, ab da war alles einfacher. Das habe ich dann auch auf der Uni verwendet und dort waren die meisten Lehrkräfte sehr verständnisvoll. Ich muss sagen, dass ich auch viel Glück hatte, dass ich sehr gute Freund:innen hatte und dass es immer Menschen um mich herumgegeben hat, die mich unterstützt haben.


Nun sollte es aber bei der Ausbildung nicht davon abhängen, ob ein sehbehindertes oder blindes Kind Glück hat oder nicht. Welche Rolle spielen die Blinden- und Sehbehindertenverbände?

In meiner Stadt gibt es einen Blinden- und Sehbehindertenverband, aber ich habe den Eindruck, dass es nicht gelingt, die Gesellschaft darüber aufzuklären, wie Menschen mit einer Sehbehinderung leben und leben wollen und was sie brauchen. Nur ein kleines Beispiel. Ich war schon Mitte 20, als ich das erste Mal von Armschleifen gehört habe. Und in meiner Stadt ist niemand mit einem Langstock unterwegs. Wie gesagt, die allermeisten Menschen mit Behinderung sind in der Öffentlichkeit gar nicht sichtbar.

Das zeigt ja auch, dass man Menschen mit Behinderungen nicht zutraut oder besser gesagt, nicht zugesteht, ein Leben wie alle anderen zu führen.

Mein Vater war immer sehr besorgt, er hat uns meistens mit dem Auto zur Schule gebracht und ich habe auch während meines Studiums daheim gewohnt. Wie ich ihm dann gesagt habe, dass ich nächstes Monat nach München gehen werde, um einen Deutschkurs zu besuchen, war das für ihn ein richtiger Schock. Er konnte sich das gar nicht vorstellen. Er war davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderungen auf bestimmte Erfahrungen im Leben verzichten müssen. Später hat mein Vater zu mir gesagt, und das zählt zu den schönsten Momenten meines Lebens, später hat er gesagt: „Du hast mir gezeigt, dass das alles möglich ist, Auslandsaufenthalte, Studieren, Promovieren und ein selbstständiges Leben zu führen. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht zugetraut habe. Aber ich habe im Verwandten- und Bekanntenkreis immer nur erlebt, dass Menschen mit Behinderungen zuhause sitzen. Jetzt weiß ich es allerdings besser.“

Die Leute in meiner Heimatstadt reden nicht, fragen nicht, schauen weg. Wenn ich zu Besuch nachhause komme, dann mache ich mich so sichtbar wie möglich, bin mit meinem Langstock in der Stadt unterwegs. Ich ermutige die Menschen in meiner Umgebung, mich zu fragen, wenn sie etwas über meine Sehbehinderung wissen wollen. Es ist nicht unhöflich, es ist nicht beleidigend, wenn sie fragen.


Was hat Sie motiviert, von daheim auszuziehen, ins Ausland zu gehen und Ihr eigenes Leben aufzubauen?

Ausschlaggebend war für mich die Begegnung mit einem Mann, mit einem Engländer, der auch blind ist. In England wird mit Behinderungen ganz anders umgegangen als in Italien. Wir waren in einer WhatsApp Gruppe und er hat mich einmal besucht. Ich war damals 26 Jahre alt und habe noch zuhause gewohnt. Dieser Freund war vollblind, hat aber alles selber gemacht. Ich war sehr überrascht. Er war der erste blinde Mensch, den ich kennengelernt habe und er hat mir gezeigt, was ich alles machen kann. Ich brauche nur ein Training oder ich muss es halt immer wieder probieren. Er hat damals allein gewohnt und hatte viele Freund:innen, vor allem in der Blinden-Community. Diese Begegnung hat mir die Augen geöffnet. Ich habe plötzlich gesehen, was ich noch alles tun könnte. In dem Moment habe ich gespürt, dass ich alleine wohnen will. Ich mag meine Familie, ich liebe meine Familie, aber ich will alleine leben. Diese Begegnung, diese kurze Beziehung hat meine Sichtweise geändert und war ausschlaggebend für meine weiteren Schritte. Ich habe angefangen, einen Langstock zu verwenden. Zuerst während eines kurzen Forschungsaufenthalts in Deutschland, dann auch in Bari, wo ich studiert habe. Seit ich in Wien bin, verwende ich ihn immer, wenn ich ihn brauche. Ich habe kochen gelernt und koche inzwischen sehr gerne.

Was ist Ihnen neben Ihrer beruflichen Tätigkeit als Sprachlehrerin wichtig? Was tun Sie gerne in Ihrer Freizeit?

Ich lese gerne, ich brauche dazu eine weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund. Ich höre gerne Hörbücher. Dann spiele ich auch ein bisschen Ukulele und Saxophon, ich singe auch gerne. Ich interessiere mich für Audio Games, allerdings ist das Angebot sehr gering. So habe ich mir gedacht, ich könnte vielleicht Audio Spiele entwickeln, wenn ich eine geeignete Ausbildung für mich finde. Ich reise gerne und ich lerne gerne Fremdsprachen, zurzeit gerade Französisch. Aber ich möchte auch Arabisch lernen. Ich finde diese Sprache sehr schön, sehr musikalisch. Und natürlich möchte ich mich auch mit dem Wienerischen besser vertraut machen. (Lacht)

Im Herbst bieten Sie im Louis Braille Haus einen Anfängerkurs für Italienisch an. Worum geht es in so einem Kurs noch, abgesehen davon, dass man als Teilnehmer:in die Sprache in einer für sich geeigneten Weise erlernen möchte?

Wir haben in unserem laufenden Kurs einmal über den Konjunktiv gesprochen und ich habe die Teilnehmer:innen gefragt: Was würdet ihr für blinde und sehbehinderte Menschen tun, wenn ihr Bürgermeister:in von Wien oder Chef:in des Blinden- und Sehbehindertenverbands wäret, was fehlt noch, welche Unterstützung würdet ihr sonst noch brauchen? Also in unserer Gruppe ist nicht nur der Wunsch, Italienisch zu lernen etwas Gemeinsames und Verbindendes. Sondern auch die Sehbehinderung und das Bedürfnis, unser Leben und unseren Alltag zu verbessern und zu erleichtern.

Vielen Dank für das Gespräch.

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