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Gemeinsam wandern
Frau Habinger und Herr Tryner im Interview
Frau Habinger, Herr Tryner, Sie gehen gerne wandern und sind Mitglied beim Seniorenwanderclub des ÖAV/Sektion Gebirgsverein, aber wie ist es dazu gekommen, dass Sie eine Wandergruppe für blinde und sehbehinderte Menschen, die sich gerne in der Natur bewegen, initiiert haben? Hatten Sie davor schon Kontakt mit blinden Menschen?
Tryner: Nein, gar nicht. Meine Frau hat auf der Website fragNebenan eine Notiz von einem blinden Ehepaar entdeckt. Die beiden haben Leute gesucht, die mit ihnen spazieren oder wandern gehen oder auch einmal auf einen Kaffee. Es war ein Foto dabei und meine Frau sagt, das sind doch die zwei, die ich immer wieder in unserer Gasse sehe. Wir haben uns bei dem Paar gemeldet und uns kurz darauf in einem Gastgarten getroffen. Wir haben uns beschnuppert und es war Liebe auf den ersten Blick. Die beiden haben uns damals erzählt, dass es früher einmal beim Blinden- und Sehbehindertenverband Wien, Niederösterreich, Burgenland (BSVWNB) eine Wandergruppe gegeben hat. Wir haben bald darauf die erste Wanderung zu viert gemacht und danach noch einige weitere Ausflüge. Irgendwann ist dann die Idee aufgetaucht, ich hab‘ öfters so Ideen, dass wir diese aufgelöste Wandergruppe wiederbeleben könnten. Mir war nur wichtig, dass wir das über den Alpenverein machen, also konkret über unsere Sektion. Das heißt, dass alle in der Gruppe Mitglied in der Sektion Gebirgsverein sein müssen, denn das ist wegen des Versicherungsschutzes wichtig.
Die Wanderungen finden immer am ersten Samstag des Monats statt. Die Wandergruppe hat inzwischen 17 blinde oder stark sehbehinderte Mitglieder und 21 Begleitpersonen. Der Mitgliedsbeitrag ist für alle um 50 Prozent reduziert, dafür haben Sie sich eingesetzt. Wie ist es Ihnen außerdem gelungen, genügend Begleitpersonen zu finden?
Tryner: Meine Frau und ich haben zuerst im Seniorenwanderclub der Sektion Gebirgsverein nachgefragt, und die meisten Begleitpersonen kommen von dort. Einige sind noch über den BSVWNB dazugekommen. Es machen aber auch sehende Bekannte oder Partner:innen von blinden Mitgliedern mit. Meine Frau kümmert sich um die Anmeldung, sie organisiert die Wanderungen so, dass jeder sehbeeinträchtigten Person eine Begleitung zur Verfügung steht. Die Person, die die Gruppe führt und jene, die das Schlusslicht bildet, geht jeweils allein, kann aber auch als Begleitperson einspringen, wenn dies nötig sein sollte.

Sie waren mit der Gruppe auf der Rax, in der Hagenbachklamm und sind von Purkersdorf auf die Rudolfshöhe gewandert, um nur einige Touren zu nennen. Sie wählen die Wanderungen immer so aus, dass Ausgangspunkt und Ziel öffentlich angebunden sind. Wie aber wählen Sie die einzelnen Routen aus?
Tryner: Ich hatte keine Ahnung, welche Wege blinde Leute gehen können. Bei den ersten Wanderungen waren wir auf breiten Waldwegen und Forststraßen unterwegs, wo möglichst keine Hindernisse waren. Ich gehe die Strecke vorher immer allein ab, um mir ein aktuelles Bild vom Weg machen zu können. Nach den ersten Wanderungen haben einige gemeint, dass die Touren anspruchsvoller sein könnten und dann haben wir uns gesteigert. Wir waren auf Waldwegen unterwegs, die so schmal waren, dass man hintereinander gehen muss, also im Gänsemarsch. Da ist es vorgekommen, dass Bäume quer über den Weg lagen und die Leute drübersteigen mussten, aber das ist kein Problem, denn die Begleitperson macht auf jedes Hindernis aufmerksam.
Habinger: Wir sind bald draufgekommen, dass blinde Wander:innen ganz viele verschiedene Wege gehen können, mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Voriges Jahr haben wir eine Wanderung im Schnee gemacht. Wie wir losmarschiert sind, hat es zu schneien begonnen, es war wunderschön.
Tryner: Wir sind damals im Schneegestöber bis zur Burgruine Lichtenstein gegangen und haben im Turm Adventlieder gesungen. Am Ende der Wanderung sind wir dann im Mödlinger Kobenzl gelandet. Wir machen es immer so, dass wir entweder zu Mittag oder am Ende der Wanderung in einem Lokal einkehren.
Die Wanderungen dauern in der Regel drei bis vier Stunden und es sind dabei etliche Höhenmeter zu überwinden. Im Winter, wo der Weg eisig oder rutschig sein könnte, sind Sie mit der Gruppe auf ebenen Wegen unterwegs. Ansonsten geht es bergauf, bergab.
Habinger: Ja, das ist kein Problem. Die Leute haben die Kondition, um bergauf zu gehen. Einmal haben wir eine zweitägige Wanderung im Mariazeller Land gemacht. Da ist es öfters bergauf, bergab gegangen. Einmal sogar mit einem steilen Abstieg. Der Weg war steinig, es waren viele Wurzeln und es sind viele Zapfen am Boden gelegen, so ist es über eine Stunde bergab gegangen. In solchen Situationen sind die Begleitpersonen sehr gefordert, weil man jedes Hindernis, jeden Schritt erklärt. Man muss sich ständig konzentrieren. Am Ende sind alle erschöpft und müde gewesen. Aber es war wunderschön, vorbei am Trefflingfall, einem der längsten Wasserfälle Niederösterreichs, und auch ein Stück der Erlauf entlang.
Tryner: Später hat ein Mitglied zu mir gesagt, dass diese zweitägige Wanderung so schön gewesen sei und ob wir nicht einmal eine ganze Woche wandern gehen könnten. Ich hab‘ mir nur gedacht, oh je, ich bin ja kein Reisebüro. Dann hab‘ ich es meiner Frau erzählt, die hat gemeint, ob ich verrückt sei. Aber dann sind wir doch gefahren.

Sie haben recherchiert, überlegt, welches Gebiet geeignet sein könnte, haben eine Unterkunft gesucht und einen ortskundigen Wanderführer organisiert. Schließlich hat die Wanderwoche letzten Oktober im steirischen Joglland stattgefunden.
Tryner: Die Vorbereitung war sehr intensiv, es muss ja alles passen, das Haus, die Gegend, das Gelände, der Preis, die Anreise. Die Wirtin von unserem Quartier hat uns den Wanderführer vermittelt, das ist ein pensionierter Gemeindebediensteter. Er kennt die Gegend sehr, sehr gut, er war mit uns sechs Tage wandern. Alle waren vom Franz begeistert. Er hatte schon mit blinden Leuten zu tun und kannte viele geeignete Wege. Und er wusste sehr viel über Blumen, Bäume, übers Harz, über die Ameisen und andere Tiere im Wald. Er hat auch einen Waldgeist mitgehabt, kurz vor dem Ende einer Wanderung hat er eine Runde ausgegeben. Es war eine sehr schöne Woche, nur hatten wir die ganze Zeit Nebel.
Habinger: Eine blinde Frau hat gemeint, ihr Sehenden tut mir leid, jetzt habt ihr nicht einmal eine schöne Aussicht. Aber es war richtig mystisch, im Nebel zu wandern. Und überall im Wald haben wir Fliegenpilze in allen Schattierungen von Rot und Violett gesehen, und auch viele Steinpilze. Es war unglaublich schön.
Wie erleben Sie den Unterschied, wenn Sie mit sehenden Personen unterwegs sind und wenn Sie mit blinden Menschen eine Wanderung unternehmen?
Habinger: Wenn ich eine blinde Person auf der Wanderung begleite, unterhalte ich mich über dies und das, wie mit jeder anderen Person. Bei Sehenden muss ich nicht unbedingt auf Hindernisse aufmerksam machen, wenn wir hintereinandergehen. Und viele Blinde sagen auch, du brauchst mir nicht jeden Stein anzusagen. Wenn sie einmal stolpern, entschuldige ich mich, aber sie finden, dass das dazu gehört. Als Begleitperson ist es allerdings sehr wichtig, auf Äste von oben zu achten. Man darf sich nicht nur auf den Boden konzentrieren.

Wie haben Sie sich das nötige Wissen als Begleitperson angeeignet?
Habinger: Woher ich weiß, wie ich eine blinde Person führe? Es war learning by doing, wir sind ja zuerst mit unseren beiden blinden Nachbar:innen wandern gewesen. Dann haben alle Begleitpersonen noch eine Einschulung bekommen, und zwar mit einer Trainerin vom BSVWNB.
Tryner: Wir haben im Wienerwald eine Wanderung mit allen zukünftigen Begleitpersonen gemacht. Die Trainerin hat uns erklärt, wie man blinde Personen führt. Wir haben uns zu zweit zusammengetan, eine Person hat eine schwarze Binde über die Augen bekommen, die andere hat geführt. Dann haben wir gewechselt. So sind wir zur Kammersteiner Hütte hinauf gegangen. Auf einer Wiese haben wir ein paar Vertrauensübungen gemacht, also dass man sich zurückfallen lässt und darauf vertraut, dass der andere einen wirklich auffängt. Es war informativ und es war auch ein lustiger Tag, wir hatten eine Hetz dabei. Später habe ich erst gemerkt, dass es sinnvoll ist, wenn ich erzähle, wo wir gerade sind.
Habinger: Wenn wir von einem Waldweg zu einer Wiese kommen, sage ich, dass wir jetzt am Rand einer sehr großen Wiese stehen, dass weiter hinten die hohe Wand zu sehen ist und rechts von uns ein Wald. Beschreibungen dieser Art vermitteln eine gewisse Vorstellung von der Umgebung, in der wir uns bewegen.
Wie schaut es konkret aus, wenn Sie eine blinde Person beim Wandern führen?
Tryner: Das ist ganz unterschiedlich. Das hängt von der Person ab, aber auch ob wir nebeneinander oder hintereinander gehen. Auf einem schmalen Pfad zum Beispiel geht die Begleitperson vorne und beide halten mit der gleichen Hand waagrecht einen Stock. Oder man befestigt am Rucksack eine Seilschlinge und die blinde Person, die dahinter geht, nimmt sie in die Hand. Ist der Weg breit genug, kann man sich bei der Begleitperson einhängen. Manche gehen Hand in Hand, andere halten sich am Oberarm der Begleitperson an, an der Schulter oder am Rucksack. Es kann auch eine Schlaufe verwendet werden, also beide, die blinde Person und die Begleitperson halten je ein Ende der Schlaufe fest.
Habinger: Als Begleitperson stelle ich mich auf die blinde Person ein. Ich gehe so, wie sie es will und passe mich an. Das funktioniert gut. Unterwegs macht man die blinde Person auf Stufen, Steine, Wurzeln aufmerksam, oder man führt sie auch um die Hindernisse herum. Bei einer Wanderung im Joglland hatten wir einmal einen steilen Anstieg, der Weg war steinig und voller Wurzeln. Da bin ich immer Zick-Zack gegangen, um den größeren Steinen und Wurzeln auszuweichen. Man muss also unterwegs auch noch einmal den Weg aussuchen. Wenn es sehr viele Hindernisse gibt, ist es zu anstrengend, wenn du der blinden Person bei jeder Wurzel sagen musst, dass sie da drübersteigen soll. Es ist einfacher, um die Hindernisse herumzuführen.
Tryner: Es ist wichtig zu wissen, dass die Begleitperson das Sagen hat. Sie ist verantwortlich für die Person, die sie führt. Also wenn man zum Beispiel nebeneinander auf einem Weg geht, wo es auf einer Seite hinuntergeht, muss die Begleitperson immer auf der abschüssigen Seite und die blinde Person immer auf der Hangseite gehen. Es ist wichtig, diese Regel einzuhalten.

War es schwierig, genügend Begleitpersonen zu finden?
Tryner: Zunächst haben sich recht viele aus der Seniorengruppe angemeldet, aber wie dann diese Trainingswanderung stattfinden hätte sollen, haben sich wieder etliche abgemeldet. Sie haben gesagt, dass sie sich das nicht zutrauen und Angst vor dieser großen Verantwortung haben. Da war ich ganz weg, weil ich dachte, ja sicher habe ich eine Verantwortung, aber wenn jemand hinfällt, kannst du ja auch nichts machen. So etwas kann passieren, ist auch schon passiert.
Habinger: Man muss wirklich keine Scheu haben, mit blinden Leuten wandern zu gehen. Man muss als Begleitperson auf den Weg aufpassen und die blinden Mitglieder auf die Hindernisse aufmerksam machen. Und ja, im Gasthaus begleiten wir sie auf das WC und lesen die Speisekarte vor, das ist klar, aber das ist ja nicht schwierig. Es ist schön, mit den Leuten beisammen zu sein und sich zu unterhalten. Viele blinde Mitglieder unserer Wandergruppe gehen auch in anderen Konstellationen wandern, betreiben auch andere Sportarten, sind sehr aktiv. Ich empfinde unsere Wanderungen als eine sehr schöne gemeinschaftliche Aktivität.
Wer sich für die Wandergruppe interessiert, kann sich auf der Website informieren oder sich direkt an Robert Tryner wenden. Email: robert.tryner(at)gebirgsverein.at und Mobil: +43.(0).664 343 95 55.
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