Portraits
„Ich habe einen starken inneren Willen entwickelt.“
Rebekka Gottwald im Portrait
Die junge Niederösterreicherin kommt mit ihrer Assistenzhündin Molly zum Interviewtermin. Mit 18 Jahren hat sie ihre Blindenführhündin bekommen und seit einigen Jahren sind die beiden ein eingespieltes Team. Viel hat sich durch Molly geändert, die junge Frau ist jetzt schneller und sicherer unterwegs, denn die Hündin führt sie auf Kommando zum Zebrastreifen, zeigt ihr Gehsteigkanten an oder weist ihr in der U-Bahn den Weg zu einem freien Sitzplatz. „Dazu kommt, dass mich sehr viele Leute ansprechen, wenn ich mit meinem Hund unterwegs bin. Sogar Freundschaften entwickeln sich."
„Mich hat einmal im Park, wo ich mit meinem Hund immer wieder hingehe, eine junge Frau angesprochen, sie war sehr beeindruckt von Molly und mir. (Lacht) Wir haben uns unterhalten, dann waren wir einmal Kaffee trinken und inzwischen sind wir gute Freundinnen."
"Sie ist ein sehr wertvoller Mensch für mich, sie ist sehr intuitiv, sehr wohlwollend. Wir waren sogar gemeinsam eine Woche auf Kreta.“ Auch Kinder kommen mit ihren Eltern immer wieder auf sie zu, fragen nach, was der Hund alles kann und daraus ergeben sich immer wieder schöne Gespräche und nette Begegnungen. Molly kann viel und ist ausgesprochen verlässlich. Nur wenn es regnet, verweigert sie ihren Dienst. So gern sie schwimmt, so sehr hasst sie den Regen. „Da muss ich sie daheimlassen oder im Homeoffice bleiben, oder ich nehme sie an die Leine und gehe mit dem Blindenstock. Ich muss sie dann fast zwingen rauszugehen.“(Lacht)
Auch wenn Rebekka Gottwald eine ausgebildete Assistenzhündin bekommen hat, dauert es eine Weile, bis das Zusammenspiel gut funktioniert. Um als Team unterwegs sein zu können, muss auch eine Teamprüfung abgelegt werden. Dies haben die beiden nach einigen Monaten an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien erfolgreich gemacht. Die Assistenzhündin erleichtert nicht nur Rebekkas Alltag. Als sie sich für einen Platz in einer Wiener WG bewirbt, punktet sie mit Molly. „Es hat den beiden anderen gefallen, dass ich einen Hund habe.“ Die Anfang Zwanzigjährige fühlt sich in ihrem neuen Zuhause sehr wohl und versteht sich mit ihren Mitbewohnern Tobi und Christoph ausgezeichnet. Sie zieht von Wiener Neustadt, wo sie aufgewachsen ist, nach Wien, weil sie die Maturaschule Dr. Roland besuchen will. Die Lehrkräfte sind überaus bemüht, dass sie im Unterricht alles mitmachen kann, bei den Prüfungen erhält sie mehr Zeit, die Klassenkolleg:innen sind unterstützend. „Ich hab wirklich Glück gehabt. Das war eines meiner schönsten Schuljahre.“
Die Volks- und Mittelschule absolviert das Mädchen in Wiener Neustadt. Es sind schwierige Jahre. Das Volksschulkind sieht nicht, was auf der Tafel steht, verwechselt Farben, ist nachtblind. Wenn das Licht im Klassenzimmer abgedreht wird, traut es sich nicht zu sagen, dass es ohne Beleuchtung nichts sieht und nicht mitarbeiten kann. Das Versäumte muss nachmittags mit elterlicher Hilfe aufgeholt werden. Das Kind ist überfordert, es ist nicht in der Lage zu sagen, was es braucht. Es tut, was es kann und einiges ist möglich.
„Es gab aber schon Situationen, die für mich sehr unangenehm waren, wo ich als die Komische abgestempelt wurde, weil ich nicht situationsgemäß reagiert habe.“
Ähnlich ist die Situation in der Mittelschule. „Ich habe mich nie getraut zu sagen, dass ich etwas nicht sehe, dass ich Hilfe brauche. Im Nachhinein denke ich mir, das hätte nicht so sein müssen, das hätte anders gemacht werden können. Aber damals waren meine Eltern noch nicht so weit, dass sie das volle Ausmaß meiner Behinderung verstanden hätten.“ Es ist für alle in der Familie ein schmerzlicher Lernprozess. Die Eltern müssen lernen zu akzeptieren, dass beide Kinder, auch Rebekkas älterer Bruder, eine Sehbehinderung haben, dass beide Kinder Retinitis Pigmentosa, eine erblich bedingte Netzhauterkrankung haben. Und die beiden Geschwister müssen lernen, mit dem fortschreitenden Sehverlust umzugehen. Inzwischen verstehen die Eltern viel besser, was ihre sehbehinderte Tochter braucht und unterstützen sie wo immer sie können.
Im Alter von 16 Jahren geht Rebekka nach Israel. Ihr Sehvermögen ist damals bereits stark eingeschränkt, aber sie kann sich orientieren und kommt noch zurecht. In der Nähe von Tel Aviv will sie ihre Schullaufbahn fortsetzen und dort die Matura machen. Aber schon kurz nach ihrer Ankunft erlebt sie dramatische Momente. „Ich hatte einen ganz argen Schub. Ich habe mich schon davor oft bei den anderen Mädchen eingehängt, habe schon oft Unterstützung gebraucht, aber jetzt konnte ich nichts mehr lesen und hätte eigentlich einen Blindenstock benötigt.“ Der Schock sitzt tief, sie ist allein in einem fremden Land und entscheidet sich, nachhause zurückzukehren. Wieder in Wiener Neustadt nimmt sie zum ersten Mal Kontakt mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband auf. Sie weiß nicht, wie es weitergehen könnte, denn in Wiener Neustadt findet sie, mitten im ersten Halbjahr, keinen Schulplatz. Es wird ihr geraten, ins Bundesblindeninstitut (BBI) zu gehen. So besucht der Teenager am BBI die Handelsschule, lernt die Brailleschrift und weitere blindenspezifische Techniken. Anschließend besucht sie die Maturaschule Dr. Roland. Sie braucht aber einen Ausgleich zum Lernen, informiert sich beim VSC und entscheidet sich fürs Schwimmen. Rebekka trainiert drei- bis viermal pro Woche, nimmt an Wettkämpfen teil und ist überaus erfolgreich. Sie erringt bei der Staatsmeisterschaft 2024 Medaillen und schwimmt kurz darauf in Brünn drei österreichische Rekorde. „Mein Team ist einfach super, wir schwimmen immer wieder neue Rekorde, überbieten unsere eigenen Rekorde. Wir sind gut aufgestellt und haben tolle Trainer.“
Beruflich ist Rebekka Gottwald als Peer Beraterin bei der WAG Assistenzgenossenschaft tätig. Zu ihr kommen Menschen mit Sinnes- und Körperbehinderungen, die für ihre Arbeit, Ausbildung oder Freizeit eine Persönliche Assistenz (PA) benötigen. „Gemeinsam mit den Kund:innen erhebe ich den Bedarf, schaue welche Leistungen für sie in Frage kommen und mache die Anträge, ich fülle also Formulare aus. Ich schaue, welche Anforderungen sich für die Persönliche Assistenz ergeben. Und so versuchen wir, für unsere Kund:innen die perfekt zugeschnittene PA zu finden.“ Bei ihrer beruflichen Tätigkeit greift die Peer Beraterin selbst auf eine PA zurück. Sechs Stunden pro Woche wird sie bei ihrer Arbeit von einer sehenden Person unterstützt.
„Es ist schön, weil man auf diese Weise selbstbestimmt ist. Man braucht nicht die Kolleg:innen fragen, kannst du mir bitte dies oder das machen. Man hat eine Person, damit sie das, was ich aufgrund meiner Behinderung nicht kann, kompensiert.“
Seit Herbst 2024 studiert Rebekka Gottwald berufsbegleitend Psychosoziale Interventionen an der Bertha von Suttner Universität in St. Pölten. Das ist eine Psychotherapieausbildung im Rahmen eines Bachelor und Master Studiums. Es kommt ihr sehr entgegen, wie das Studium organisiert ist. Einmal im Monat finden Lehrveranstaltungen in Präsenz statt, alles andere ist online. „Ja, ich möchte Psychotherapeutin werden. Ich möchte mich beruflich spezialisieren auf Menschen mit Sehbehinderung oder überhaupt auf Menschen mit Behinderung. Ich weiß, dass es sehr, sehr schwer sein kann, wenn man mit einer Behinderung konfrontiert ist, vor allem, wenn man noch sehr jung ist. Da möchte ich den Betroffenen und ihren Angehörigen Halt und Unterstützung geben. Ich glaube auch, dass man viel Herausforderndes erlebt, wenn man eine Behinderung hat und dass man viel aufarbeiten kann, wenn man das möchte. Vielleicht gelingt dies besonders gut, wenn man mit jemandem spricht, der in derselben Situation war.“
Was hat Rebekka Gottwald damals Halt gegeben, als sie im Alter von 16 Jahren diese massive Seheinschränkung erlebt hat und zwei Jahre später erblindet ist? Wer und was hat sie unterstützt in dieser schwierigen Situation? Die Eltern sind für sie da. Die Gespräche mit ihrem sehbehinderten Bruder helfen ihr. Er ist vier Jahre älter als sie und mit 20 Jahren erblindet. Und ganz besonders unterstützend erlebt sie ihre Cousine Sara, die zugleich ihre beste Freundin ist. „Ich habe ihr von all den schwierigen Situationen und meinen Ängsten erzählt, die ich erlebt habe. Wir haben uns immer wieder überlegt, wie ich damit noch besser umgehen könnte. Vieles hat mich verunsichert und ich war sehr, sehr unsicher. Ich habe mich oft nicht getraut zu sagen, dass ich fast nichts sehe. Habe getan als wäre nichts. Das hat natürlich einen enormen Druck erzeugt. Und gemeinsam mit Sara habe ich versucht, neue Strategien zu finden.“ Auch der Sport, das Schwimmen hilft. „Das hat mir wirklich sehr, sehr viel Halt gegeben. Wenn man schwimmt, wenn man sich bewegt, dann grübelt man nicht, sondern konzentriert sich aufs Schwimmen, die Gedanken hören auf zu kreisen. Man kann sich total auspowern, man kann sich den Frust wegschwimmen. Und wie wir dann bei den Wettkämpfen erfolgreich wurden, hat das mein Selbstwertgefühl sehr gestärkt.“
Man könnte sagen, die junge Frau schwimmt sich frei, im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn. Und setzt viele Energien frei. Denn neben ihrem Vollzeitjob als Peer Beraterin und den Schwimmtrainings, neben Treffen und Unternehmungen mit Freund:innen, engagiert sich Rebekka Gottwald auch im Blinden- und Sehbehindertenverband. Sie arbeitet im Leitungsteam des BSVWNB mit, denn sie findet, es brauche immer junge Leute, die sich dafür einsetzen, dass die Situation von Menschen mit Sehbehinderung noch besser wird. Und sie ist für die Blindenführhundekoordination zuständig. Es brauche Aufklärung, das erlebe sie im Alltag immer wieder. So zum Beispiel, wenn sie mit Molly einkaufen geht.
„Bei manchen Supermarktketten funktioniert es schon sehr gut. Da weiß man, dass ein Assistenzhund mit ins Geschäft darf. In manchen aber nicht, dann muss man jedes Mal diskutieren, erklären und mit den Filialleiter:innen reden. Das ist supernervig und anstrengend.“
Viele Leute würden sich bei Blindenführhunden gar nicht auskennen. Wüssten nicht, was diese können und dürfen und wie man mit ihnen umzugehen habe. Die engagierte junge Frau nennt nur zwei Beispiele von vielen. „Wenn ich in den Öffis unterwegs bin, schimpfen mich Leute, dass ich dem Hund einen Maulkorb draufgeben soll. Auch ein Busfahrer wollte mich einmal nicht in den Bus lassen. Er hat gesagt, ohne Maulkorb kommt der Hund nicht hinein. Aber alle Assistenzhunde sind von der Maulkorbpflicht befreit. Oder wenn ich mit der Molly Gassi geh, dann schimpft fast jeden Tag jemand, dass ich den Kot wegräumen soll. Aber wie soll ich das machen, wenn ich nichts sehe?! Leute, denkt bitte mit, wie stellt ihr euch das vor?! Ich wünsche mir schon, dass die anderen zuerst ein bisschen nachdenken, bevor sie sich aufregen und einem drüberfahren.“
So vergeht kaum ein Tag, wo nicht sichtbar wird, wie viel Aufklärung noch notwendig ist. Rebekka Gottwald trägt ihren Teil dazu bei. Gesellschaftlich wie persönlich. Sie engagiert sich beim Blinden- und Sehbehindertenverband. Und sie geht ihren Weg, macht, was ihr wichtig ist. „Ich habe einen starken inneren Willen entwickelt. Ich habe für mich beschlossen, dass ich mit meiner Behinderung alles erreichen werde und erreichen kann, was ich möchte, wenn ich den Biss dazu habe.“ Auch wenn der Weg dorthin komplizierter sein mag, auch wenn manches anders geht als für sehende Menschen, ändert dies nichts daran, dass Rebekka Gottwald ihre Ziele erreichen möchte.
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